Die "größte Weiterentwicklung der Pflegeversicherung seit ihrer Einführung vor mehr als 20 Jahren" - so bewertete der damalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe die Pflegestärkungsgesetze. Tatsächlich hat die Reform vieles in der Pflege umgekrempelt. Eine der wichtigsten Änderungen im "Zweiten Pflegestärkungsgesetz", das das Kabinett am 12. August 2015 beschlossen hatte: Ab 2017 wurde ein neues System eingeführt, wie Menschen als pflegebedürftig eingestuft werden. Für die Betroffenen ist das wichtig, denn je schwerer der Pflegegrad, desto mehr Geld gibt es von der Kasse.
Neues BegutachtungssystemZuvor achteten die Gutachter bei der Einstufung vor allem darauf, wie zeitaufwändig die Pflege ist. Inzwischen steht die Selbstständigkeit im Zentrum: Bewertet wird, in welchen Bereichen des Alltags ein Betroffener alleine zurechtkommt und wobei er Hilfe braucht. Die Gutachter überprüfen etwa, ob sich jemand selbst versorgen kann, wie mobil er ist und ob er seinen Alltag selbst gestalten kann.
Im neuen System zählen geistige und psychische Einschränkungen ebenso wie körperliche. "Für Menschen mit Demenz ist es durch die Reform viel einfacher geworden, Leistungen zu beziehen", so Christian Pälmke von der Interessenvertretung "Wir pflegen". Auch Menschen mit psychischen Erkrankungen oder geistigen Behinderungen haben profitiert. Mit der Reform wurden die drei Pflegestufen ab 1. Januar 2017 abgeschafft - stattdessen wurde in fünf Pflegegrade eingeteilt.
Mehr Menschen haben seitdem Anspruch auf LeistungenViele, die zuvor durchs Netz der Pflegeversicherung gefallen waren, haben mit der Reform Zugang zu Leistungen. Ende 2017 waren in Deutschland 3,41 Millionen Menschen pflegebedürftig. Zwei Jahre zuvor waren es noch 2,86 Millionen gewesen. Eine Zunahme um fast 20 Prozent - großteils hat das mit der neuen Definition zu tun. Dass die Leistungssätze angehoben wurden, hieß für viele Familien: mehr Geld.
Aus Sicht von Christian Pälmke von "Wir pflegen" war das auch dringend notwendig. "Über Jahre hinweg stagnierten die Leistungssätze, obwohl die Pflegekosten von Jahr zu Jahr gestiegen sind. Man hat im Grunde nur Versäumnisse nachgeholt." Wegen gestiegener Kosten erhöhte sich der Beitragssatz Anfang 2017 um 0,2 Prozentpunkte auf 2,55 Prozent beziehungsweise 2,8 Prozent für Kinderlose.
Unterstützung für pflegende AngehörigeDie Reform sollte auch pflegende Angehörige entlasten. Sie wurden etwas besser in der Renten- und Arbeitslosenversicherung abgesichert und Budgets wurden angepasst, die eine Auszeit von der Pflege ermöglichen. Wird der Angehörige krank oder möchte in den Urlaub fahren, können etwa Nachbarn oder Freunde gegen Geld bei der Pflege zuhause einspringen (Verhinderungspflege). Alternativ kann der Pflegebedürftige übergangsweise im Heim betreut werden werden (Kurzzeitpflege). Diese Budgets lassen sich seit der Reform kombinieren.
Außerdem wurde der "Entlastungsbetrag" Anfang 2017 neu eingeführt. Dabei werden 125 Euro im Monat für Kosten wie Hilfe im Haushalt oder Betreuung erstattet.
Kritik an viel BürokratieDoch vieles hat sich durch die Reform nicht gebessert. Pflegende Angehörige fühlen sich häufig von der Politik alleingelassen; sie verzichten auf Leistungen, weil sie nicht zum Bedarf passen oder umständlich zu beantragen sind. Beim Entlastungsbetrag etwa kann man nicht einfach mit der Freundin abrechnen, sondern je nach Bundesland nur mit anerkannten Anbietern oder Privatpersonen mit Fortbildung. Diese gibt es aber in vielen Orten gar nicht oder sie haben oft keine Kapazitäten.
Schon lange wird gefordert, verschiedene Budgets zu bündeln und flexibler zu machen. Dass ein Entlastungsbudget geschaffen werden soll, steht auch im Koalitionsvertrag. Aus dem Gesundheitsministerium hieß es im Februar, es liefen bereits "intensive Vorbereitungsarbeiten". Dann kam die Coronakrise dazwischen. "Dabei sehen wir gerade jetzt, wie wichtig ein flexibler Einsatz der Finanzmittel ist, wenn sich unerwartet die Rahmenbedingungen ändern", sagt Sabine Jansen, Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Etwa, wenn Tagespflegen plötzlich schließen müssen oder Kurzzeitpflege nicht mehr möglich ist.
Spahn will im Herbst über Pflegereform diskutierenFür viele ist die Coronakrise ein Weckruf dafür, dass das System reformiert werden muss: überlastete Pflegekräfte, plötzlich geschlossene Tagespflegen, Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege. Zuletzt wurde bekannt, dass das Leben im Heim für pflegebedürftige Menschen immer teurer wird: Der Eigenanteil liegt im Bundesdurchschnitt bei über 2.000 Euro im Monat. Eigentlich wollte Spahn schon im ersten Halbjahr 2020 über eine Pflegereform debattieren. Wegen der Coronakrise soll das nun im Herbst der Fall sein. Dann steht auch fest, wie viel die Pandemie die Sozialkassen gekostet hat.