Sonntagabend, 19 Uhr, ich bin mit meiner Freundin zum Kochen verabredet. Es gibt vegane Bolognese: mit Sojaschnetzeln, Zwiebeln, passierten Tomaten und einem ordentlichen Schuss Rotwein. Zur Feier des Tages dürfen natürlich auch die guten Barilla-Nudeln nicht fehlen. Voller Vorfreude auf das leckere Essen will ich gerade etwas Öl in die Pfanne gießen - nur um urplötzlich von meiner Freundin unterbrochen zu werden. "Warte kurz, ich wieg das eben ab!". Gesagt, getan: Die Pfanne wird auf die Waage gestellt, ein (bloß nicht zu großer) Esslöffel Öl hineingegeben, das Handy gezückt und der Wert fein säuberlich in irgendeine Fitness-App eingetragen. Genauso läuft es mit allen anderen Zutaten. Mir vergeht langsam, aber sicher der Appetit.
Diese Story dürfte der bzw. dem ein oder anderen von euch sicherlich bekannt vorkommen. In beinahe jedem Freundeskreis finden sich hin und wieder Menschen, die auf einmal zu nervtötenden Diät-Profis mutieren und meinen, von nun an jeden Bissen Brot und jeden Schluck Apfelschorle haargenau dokumentieren zu müssen. Begleitet wird das ganze oft von einer exzessiven Sportsucht und einem akuten Auftreten des "Fishing for Compliments"-Syndroms: "Ich muss echt dringend abnehmen" oder "Schau mal, wie dick meine Beine geworden sind!" sind Sprüche, die sich Freunde und Bekannte gefühlt 24/7 anhören dürfen. Nein, keine Sorge: Mir ist bewusst, dass es Menschen gibt, die wirklich an Gewicht verlieren möchten und für die das Kalorienzählen eine wichtige Hilfestellung sein kann. In der Regel gehören diese Personen aber nicht zu der Art von Möchtegern-Influencer*innen, um die es in diesem Text gehen soll.
In der Hochphase ihrer Tracking-Obsession lässt sich mit kalorienzählenden Menschen kaum ein schöner Nachmittag verbringen. Alle Aktivitäten, die mit Essen zu tun haben, stehen sowieso auf der Abschussliste: Viel zu viel Zucker, Fett und Kohlenhydrate, versteht sich. Gespräche kreisen nur noch um das Thema Sport, Lebensmittel, Mikro- oder Makronährstoffe, und anstatt über Jungs zu lästern oder sich vom letzten Urlaub zu erzählen, werden untereinander lieber Fitness-Tipps ausgetauscht. Es scheint, als gäbe es für die entsprechenden Personen gar keinen anderen Lebensinhalt mehr. Was viele dabei vergessen: Ein solches Verhalten kann für das Gegenüber unglaublich triggernd sein. Dafür muss man keinesfalls eine Essstörung durchleben, es reicht schon, wenn man sich ab und an selbst negative Gedanken über sein Äußeres macht. Ich wage mal zu behaupten, dass die wenigsten Menschen dies noch nie getan haben.
Wenn man allerdings den ersten Frust gegenüber den Tracking-Fanatiker*innen hinter sich lässt, bemerkt man schnell, dass man ihnen eigentlich gar keinen Vorwurf machen kann. Denn wer auf Instagram und Co. täglich vorgelebt bekommt, dass man seinen Tagesbedarf bloß nicht über- und bestenfalls dauerhaft unterschreiten sollte, der kommt kaum darum herum, früher oder später selbst in derartige Verhaltensmuster abzurutschen. Dieses Hassobjekt richtet sich also weniger an einzelne Personen, sondern ist viel mehr eine Wutrede auf Social Media. Und auf den unglaublich toxischen Trend des Kalorienzählens an sich.
Jede einzelne Mahlzeit akkurat abzuwiegen führt zu einem unglaublichen Verlust an Flexibilität und letztendlich auch Lebensfreude. Restaurantbesuche werden zu Angstsituationen, weil man innerhalb von Minuten abschätzen muss, welches Gericht auf der Karte wohl am wenigsten Kalorien hat. Der ganze Tag wird rund um das Thema Essen strukturiert: Heute Abend möchte ich eine Pizza essen, also frühstücke ich lieber etwas weniger. Den Hunger sitze ich aus, und wenn mein Kumpel fragt, ob ich auf einen Drink in die nächste Bar kommen möchte, sage ich halt ab – schließlich habe ich mein heutiges Limit schon fast überschritten. Gedanken rund um Ernährung, Gewicht und bedrohlich wirkende Zahlen dominieren den eigenen Alltag und lassen kaum mehr Raum für Spontanität, Losgelöstheit oder innere Ruhe.
Oft handelt es sich beim Kalorienzählen zwar nur um eine seltsame Phase, die spätestens nach einigen Monaten von selbst wieder überwunden wird. Nicht selten kommt es jedoch auch vor, dass sich aus dem anfangs “harmlosen” Verhalten ernstzunehmende psychische Störungen entwickeln. Hat man einmal angefangen, ist es ziemlich schwierig, wieder aufzuhören – ich spreche aus eigener Erfahrung. Verbieten kann man die ganze Sache deshalb natürlich trotzdem nicht. Aber seine Freund*innen oder Familienmitglieder davon abzuhalten, im Falle des Falles zu Tracking-Apps zu greifen, ist ein ehrenwerter Dienst, der sich auch für die betroffenen Personen später auszahlen wird. Wer der Ansicht ist, Gewicht verlieren zu wollen, darf gerne mehr Sport machen, sich über eine ausgewogene Ernährung informieren oder auf der Arbeit die Treppe statt den Aufzug nehmen. Abnehmen und gesünder leben funktioniert auch ohne derart große Einschränkungen – meist sogar mit deutlich besserem Erfolg.
Solltet ihr aktuell also noch eine Kalorien-App auf eurem Handy installiert haben, ist genau jetzt der Zeitpunkt gekommen, sie zu löschen. Gern geschehen.
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