Jakub will ins Gefängnis. Er hofft jeden Tag, dass die Polizei kommt, ihn mitnimmt und ihn wieder ins Gefängnis nach Plötzensee bringt. Da war er schon einmal, seit er vor gut vier Jahren aus Polen nach Berlin gekommen ist. Es waren vier Monate Pause vom Klauen und vom Spritzen. „Vielleicht hilft dieser Knast. Ich gehe in den Knast und später probiere ich ein normales Leben ohne Drogen", sagt er. Leise und monoton. Leben spricht er wie „Lieben" aus. Die Lider sind halb geschlossen, die Farbe der Augen nicht zu sehen. Jakub will eine Pause. Will nicht jeden Tag beim Aufstehen „Kugel, Kugel" denken. Heroin wird als kleines Bällchen verkauft. Jakub braucht fünf bis sechs Kugeln am Tag, 50 bis 60 Euro, fast zwei Gramm Heroin.
Er steht zwischen 6 und 7 Uhr morgens auf, kauft sich zwei bis drei Kugeln Heroin und spritzt eine davon. Oft in einer der halbrunden City-Toiletten. Um 11 geht er in die Birkenstube in Moabit, eine Anlaufstelle für Drogenkonsumenten. Um 14 Uhr geht er spazieren und klauen. Drei Paar Hosen - 40 Euro - vier Kugeln.
Er hat viele Kunden und weiß, ob jemand ein Hemd oder eine Hose braucht und welche Größe der Kunde hat. „Ich bin Diebstahl." Es kommt ein Geräusch aus seiner Kehle, das wie ein Lachen klingt. „Das ist meine Arbeit." Danach geht er zu seiner anderen Arbeit. Er hilft dem Besitzer eines Spätkaufs für zwei Euro die Stunde Regale und Kühlschränke einzuräumen. Zehn Stunden, 20 Euro, zwei Kugeln. Er lebt auf der Straße.
Entzugserscheinungen und Langzeitfolgen bei Heroinkonsum. Foto: dpa-infografik
Ein Freund, bei dem er gewohnt hat, hat ihn vor zwei Monaten rausgeschmissen, weil Jakub eine Nadel oder die Verpackung einer Spritze liegengelassen hat, Jakub weiß es nicht mehr. „Das ist mein ganzes Leben. Heroin. Heroin. Und Birkenstube." „Jeder Tag ist gleich. Jeder Tag gleich. Jeder Tag scheiße." Nur Sonntage sind anders, sagt er, da raucht er einen Joint, kauft eine polnische Tageszeitung und geht in der Friedrichstraße oder auf dem Friedhof spazieren. Er liebt den Friedhof, die Stille, sagt er.
Die Birkenstube ist an den Werktagen sein Wohnzimmer. „Hier ist es gut, ich dusche jeden Tag, kann Kaffee trinken, essen, Wäsche waschen." Er legt Wert auf sein Äußeres. Seinem Chef im Kiosk hat er erzählt, dass er kokst - das sei was für bessere Leute. Er trägt Jeans und Sneaker - alles sauber und modern. Auf dem kleinen Podest vor dem Eingang hat Jakub gefegt und den Aschenbecher aufgestellt, bevor er sich einen Druck gesetzt hat.
An jedem Wochentag zwischen 11 und 16 Uhr steigen Drogenkonsumenten mit wackeligen Schritten die Stufen hoch, drücken die Tür zum Empfang auf und im Konsumraum das Heroin in ihre Venen. Jakub kennt viele von ihnen. An elf Plätzen können sie ihre mitgebrachten Drogen spritzen oder rauchen.
Auf den Aluminiumtischen stehen Desinfektionsmittel und Behälter für gebrauchtes Spritzbesteck. An der Wand ein Spiegel, eine Sauerstoffflasche in der Ecke. In den Konsumraum darf nur, wer schon lange Drogen nimmt. Die Birkenstube ist kein Ort zum Ausprobieren.
Etwa eine halbe Stunde bleiben die meisten in dem Raum, danach hängen viele der Heroinkonsumenten in den Schwingsesseln nebenan, blättern in der „Süddeutschen" oder in einem Magazin, manche dösen. Einer hastet hin und her, schwitzt, will ein Taxi. „Ich kann nicht laufen", sagt er. Die Muskeln an seinen Oberarmen zucken. Der Blick aus den weit aufgerissenen Augen mit riesigen Pupillen hetzt durch den Raum. Er hat Kokain gespritzt. Die Spritze steckt er in seine Jackentasche.
In der Ecke sitzt ein Mann mit kastanienbraun gefärbten Haaren und einem lilafarbenen Rucksack auf den Knien. Er hat früher Heroin gespritzt. Heute sei er ein „Feinschmecker" und schniefe das Heroin, sagt er. Der 50-Jährige spitzt immer wieder die Lippen, seine rechte Hand tanzt durch die Luft - eine Mischung aus Rapper und Dirigent. Am Empfangstresen gibt es Kaffee, Wasser, Saft, Cornflakes und sauberes Spritzbesteck.
„Ich hätte gerne 30 Pfännchen, 10 Spritzen - die zwei Milliliter - Nadeln - die langen - Tupfer, Wasser und Asco", sagt einer, der gerade aus dem Konsumraum kommt. Asco ist weißes Pulver, Ascorbinsäure, und wird zum Aufkochen des Heroins benötigt. Seine Augenlider hängen, die Pupillen sind winzig. Er bekommt alles von der Sozialarbeiterin, die gemeinsam mit einem Kollegen hinterm Tresen sitzt, räumt die Sachen in einen Jute-Beutel, bedankt sich und geht.
In der Birkenstube geht es ums Überleben. Die sauberen Utensilien sollen die Übertragung von HIV und Hepatitis durch verseuchte und geteilte Spritzen verhindern. Abhängige können unter hygienischen Bedingungen Rauschmittel spritzen, schniefen oder rauchen. Zwei Krankenpfleger beaufsichtigen den Konsum. Sie sollen die Abhängigen vor Überdosen schützen und in Notfällen eingreifen.
Konsumräume
Offene Drogenszene oder Überlebenshilfe? In Konsumräumen können Abhängige unter Aufsicht Drogen nehmen. Die Idee ist allerdings umstritten.
PRO: Befürworter wie der Verein „akzept" beschreiben das Konzept der Räume als „Überlebenshilfe". Die kontrollierte Einnahme könne Schwerstabhängige vor dem Tod bewahren: Bei einem Atemstillstand würden anwesende Krankenpfleger sofort reagieren, den Betroffenen reanimieren und ihm ein Gegenmittel verabreichen. Die Spritzen sind desinfiziert, es gibt strikte Regeln. Infektionserkrankungen wie HIV, Hepatitis und Abszesse sollen so verhindert werden. Der sozialen Verelendung entgegengewirkt werden. Auch die Gesellschaft profitiert nach Darstellung von „akzept" von den Räumen, da der Konsum illegaler, harter Drogen in U-Bahn-Stationen, Bahnhöfen oder Parkanlagen weniger werde. Nicht zuletzt sollen Abhängige mit Hilfe von Beratungs- und Therapieangeboten ihre Sucht überwinden.
KONTRA: Kritiker wie die bayerische Landesregierung fürchteten bereits vor Jahren das Entstehen rechtsfreier Zonen oder offener Drogenszenen. Die Einrichtungen könnten Dealer anlocken, Polizisten müssten wegsehen. Für die Bevölkerung sei das unzumutbar. Zudem verlängere das Konzept die Abhängigkeit. Es sei zudem nicht bewiesen, dass die Räume die Zahl der Drogentoten verringerten. (dpa)
Jeder Besucher muss vor dem ersten Konsum einen Vertrag unterschreiben und somit unter anderem versichern, dass er in der Birkenstube keine Drogen verkauft oder sein Spritzbesteck mit jemandem teilt. Das Konzept der Konsumräume ist mancherorts noch immer umstritten: Kritiker fürchten, dass die Druckräume Dealer anlocken und sich eine offene Drogenszene in der Umgebung der Konsumräume bildet. Zudem verlängerten solche Einrichtungen die Sucht, weil sie nicht auf Entzug setzten.
Die Zahl der Drogentoten ist erstmals seit dem Jahr 2009 wieder angestiegen. Im Jahr 2013 gab es 1002 Drogentote. Das sind etwa sechs Prozent mehr als 2012. Die jährliche Statistik der Drogentoten sei bei den Besuchern der Birkenstube kein Thema, sagt die Sozialarbeiterin. Ein junger Mann mit flackerndem Blick und großen, vereiterten Pflastern auf beiden Ohren kommt herein und geht in den Konsumraum. Er kratzt sich alles auf, erklärt die Sozialarbeiterin. „Wenn jemand von denen, die hier herkommen, stirbt, ist das schon Thema", sagt sie. „Sonst nicht."
Jakub hat Angst, dass seine Beine amputiert werden müssen und er im Rollstuhl endet. Jakub ist 39 Jahre alt. Mit 17 hat er das erste Mal Heroin gespritzt, mit Freunden. Erinnern kann er sich an sein erstes Mal nicht mehr, wie er sagt. Immer wieder Drogen, immer wieder Pausen. Seine Venen in den Armbeugen sind kaputt, er trifft sie nicht mehr.
Er hat probiert, das Heroin zu rauchen. Aber wenn er es spritzt, wirkt es schneller. Er drückt sich das Heroin jetzt in die Leiste. Im Konsumraum der Birkenstube warnt ein Schild davor.
"Nonstop Heroin in meinem Kopf"Jakub weiß, dass das gefährlich ist. Weil das Heroin leichter in Muskeln, Nervenbahnen oder Arterien gelangen kann, drohen Lähmungen, Entzündungen oder Thrombosen. Jakub knibbelt mit dem Zeigefinger am Daumen. Wenn er die Nadel in die Leiste gestochen hat, zieht er etwas Blut in die Spritze. Ist es dunkel, drückt er sich das Heroin in den Körper. Ist es hell, weiß er, dass er eine Arterie getroffen hat. Wenn er dann abdrückt, ist es gefährlich - und schmerzhaft.
Einen Rausch hat er nach einem Druck nicht mehr. Wie viel Heroin er braucht, um high zu werden, weiß er nicht. „Ich spritze, weil ich muss." Er zieht das „u" in die Länge. „Ich brauche diesen Affen nicht. Diese Schmerzen." Sein Kopf sackt für einen kurzen Moment nach vorn.
Entzugsschmerzen hat er schon lange nicht mehr gehabt. „Nonstop Heroin in meinem Kopf, wirklich, nonstop." Auf seiner Unterlippe hängt ein winziger Tropfen zähen Speichels. Er hat Angst vor dem Tag an dem er aufwacht und kein Geld hat, um eine Kugel zu kaufen. Dann kommen „diese Schmerzen", hundertmal schlimmer als Grippe. Früher in Polen sei alles okay gewesen. Er hat am Telefon Ersatzteile für Lastwagen verkauft. „Das war gute Arbeit, wirklich gute Arbeit", sagt er leise. Er schließt die Augen. Er hat Kfz-Mechaniker gelernt, 2000 Euro im Monat verdient, abends Fernsehen geguckt und einmal in der Woche seine Eltern besucht. Die leben jetzt in New York, er hat keinen Kontakt zu ihnen. Seine Frau hat ihn vor sechs Jahren verlassen, wegen des Heroins. Auch seine Tochter sei ohne ihn besser dran. „Ich bin nicht gut." Er hat niemanden mehr.
„Das ist alles Zeremonie." Das Material kochen, spritzen, später saubermachen. „Auf der einen Seite liebe ich diese Scheiße." Lieben klingt wie lieben. Einer, der in der Birkenstube auf einem Schwingsessel hängt, lacht kurz, döst weiter. Jakub lächelt, nur mit dem Mund, die Augen bleiben halb geschlossen.