Vor einem Jahr starb die elfjährige Chantal aus Hamburg-Wilhelmsburg an Methadon, das vermutlich von den Pflegeeltern stammte. Seitdem stehen Jugendämter in der Kritik. Ein Blick hinter die Kulissen. Von Elena Ochoa Lamiño
Daniela Wolf* öffnet die Wohnungstür. Ein süßlicher, leicht unangenehmer Geruch dringt in die Nase. Sie macht Platz und der Blick auf den kleinen Flur wird frei. Ein Raum, der scheinbar nur aus Türen zu bestehen scheint - Küche, Duschbad, Schlafzimmer, Kinderzimmer, Wohnzimmer, Haustür. Bloß ein Schrank, mit einer Ablage voller Nippes und eine Garderobe haben Platz im Flur gefunden.
Vom Wohnzimmer gehen ein weiteres Kinderzimmer und ein Balkon ab. "Das war es auch schon", sagt die vierfache Mutter, während sie im Türrahmen zum Wohnzimmer steht, "62,68 qm." Es ist aufgeräumt, aber wohl nur, weil Daniela Wolf die Woche zuvor den Schrank im Flur neu aufgebaut hat. Das lässt zumindest Familienhelferin Astrid Röckel* durchblicken, die in der Essecke des Wohnzimmers sitzt. Die Sozialpädagogin arbeitet bei einem freien Träger, der vom Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) beauftragt wird.
Röckel kennt die 32-Jährige nun schon seit vier Jahren. Als sie sich kennenlernten, hatte Daniela Wolf bereits vier Kinder, zwei Jungen und zwei Mädchen, wobei die Jungen einen anderen Vater als die Mädchen haben. Was sie aber vor allem hatte: große Skepsis gegenüber der Familienhelferin. "Ich hatte Angst, dass sie mir die Kinder wegnehmen wollte. Ich habe mich gefragt: Was will die? Kann ich mit ihr reden?" Ursprünglich kommt Daniela Wolf aus Stade. Warum die gelernte Malerin und Lackiererin von dort in den Problemstadtteil Steilshoop in Hamburg gezogen ist: "Das möchte ich nicht erzählen."
Mit damals vier Kindern, keinem Job, alleinerziehend und ohne Hilfe von Freunden und Verwandten schien die Mutter überfordert. Eine Mitarbeiterin beim ASD, Julia Brenner*, nahm sich ihrer an und schickte Hilfe - Sozialpädagogin Röckel. Der ASD ist ein Teil der sieben Jugendämter und gehört zu den Bezirksämtern. Er ist dafür zuständig, Kinder vor Gefährdungen zu bewahren und Eltern bei der Erziehung zu helfen - praktisch und beratend.
Zwischen den Eltern gibt es häufig StreitNeben der Tür zum Kinderzimmer sind bunte Fuß- und Handabdrücke auf der farbig gestrichenen Wand dekoriert. "In dem Zimmer schlafen die beiden Jungs." Es ist blau gestrichen. Zwei Betten und ein Schrank stehen darin, die Spielsachen liegen überall herum. Eine zweite Tür geht ins Nebenzimmer zu den Mädchen. Um aber den Platz in den acht Quadratmeter großen Zimmern zu nutzen, ist diese zugestellt. Dieses Zimmer ist rosa gestrichen. Die Möbel der Kinder kamen über Spenden.
Daniela W. brauchte ein halbes Jahr, um sich an die fremde Hilfe zu gewöhnen. In der Regel ist sie allein. Röckel zeigte ihr, "wie sie einen kindgerechten Tagesablauf hinbekommt, wie sie mit vier Kindern gleichzeitig fertig wird". Und war beeindruckt, wie die übergewichtige Frau vier Kinder und einen Kinderwagen die vier Etagen zur Wohnung auf einmal hochbringen konnte.
Die Jungen sind jetzt sieben und acht Jahre alt. Momentan wohnen sie beim Vater und nur am Wochenende bei der Mutter. Die Entscheidung fiel Daniela Wolf nicht leicht. Der Größere wollte lieber beim Vater wohnen, der Kleine bei der Mutter, aber weil die beiden aneinander hängen, sollten sie nicht getrennt werden.
Dennoch gibt es häufig Streit zwischen den Eltern. "Er lässt die beiden oft bei den Nachbarn oder schickt sie zu anderen Leuten ohne vorherige Absprache", sagt Daniela Wolf über ihren Exmann. Er hat keine Familienhilfe an der Seite, keine Frau Röckel, die über die Schulter guckt - die Familienberatung hat er nicht in Anspruch genommen.
Eigentlich sollte die Betreuung eingestellt werdenDie Mädchen sind drei und vier Jahre alt. Sie freuen sich auf die Besuche von Röckel. "Heute kommt Astrid zum Malen und Haare waschen - mit dem Becher", heißt es dann. Mit dem Vater der beiden versteht sich Daniela besser: "Er kommt mindestens einmal die Woche", erzählt sie. Ein Zimmer weiter schläft die Mutter: Ein Bett, ein großer Schrank, ein Kinderbett und sehr viele Klamotten füllen den Raum: "Es ist eher ein begehbarer Kleiderschrank, aber bald muss sich das auch ändern." Denn Daniela ist wieder schwanger, im sechsten Monat. "Aber der Vater existiert nicht."
Eigentlich sollte die Betreuung eingestellt werden. Die einhellige Meinung war, die junge Frau käme allein zurecht. Ein weiteres Kind hat die Pläne zunichte gemacht. "Nun wird die Familienhilfe zunächst weitergeführt", sagt Brenner.
Die Mitarbeiterin des ASD hat ihren Hauptarbeitsplatz in der Dienststelle in Steilshoop. Heute morgen ist Sprechstunde in der Dienststelle. Es ist kurz nach neun und die Flure sind noch recht ausgestorben. Im großen Warteraum gibt es ein Bereich für Kinder, mit verschiedenen Spielzeugen und Kuscheltieren. "Man merkt, dass unsere Kunden gern noch etwas schlafen. Die Sprechstunde am Donnerstagnachmittag ist immer besser besucht", sagt Brenner.
Viele Fälle werden nicht rechtzeitig angezeigtDie Sozialpädagogin arbeitet seit etwa acht Jahren beim ASD. Seit sechs Jahren in ihrer jetzigen Dienststelle. Ihr Büro hat zwei Türen. Eine führt zum Flur, die andere ins Nachbarbüro. So hat sie immer die Möglichkeit, aus dem Raum zu fliehen, sollte sich ein Elternteil beim Gespräch aggressiv verhalten. Den direkten Kontakt zu den verschiedenen Familien und deren Verhältnissen empfindet sie als sehr prägend: "Aber es reizt mich, parteilich für die Kinder zu handeln." Denn das ist eine ihrer Hauptaufgaben: herauszufinden, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt.
Dass dies nicht immer gelingt, zeigen Fälle, in denen Fehlentscheidungen publik werden. Im vergangenen Jahr geriet das Jugendamt Hamburg-Mitte mit dem Fall der elfjährigen Chantal aus Wilhelmsburg in den Fokus. Sie starb an Methadon, das vermutlich von ihren Pflegeeltern stammte. Die Innenrevision und Staatsanwaltschaft ermittelten, es gab schlechte Presse, und die Mitarbeiter waren verunsichert. "Die Berichterstattungen waren zermürbend und sehr verletzend", sagt Frank Schwippert, der stellvertretende Leiter des Bezirksamts Wandsbek: "Wir sind nicht fehlerfrei."
Vorwürfe einiger Familien seien bar jeder Realität. Sie haben unter Umständen weder das Sorgerecht, geschweige denn ein Umgangsrecht. Auch werden gerne Tatsachen verschwiegen. "Und uns sind die Hände gebunden, weil es sich um laufende Fälle handelt, über die wir zum Wohle der Kinder nicht öffentlich sprechen können", erzählt er weiter.
Auch für Brenner ist die schlechte Presse kränkend. Ihre Arbeit im ASD werde nicht respektiert, dabei tue sie alles, um den Kindern, für die sie zuständig ist, ein gutes Leben zu ermöglichen. Allein in Wandsbek wurden rund 200 Mitarbeiter des Bezirksamtes nach dem Fall Chantal aus dem normalen Betrieb genommen, um alle anderen Akten zu sichten. Ein ähnlicher Fall sollte vermieden werden, zum Wohle des Kindes. "Wir bemühen uns. Am Ende gibt es aber keine absolute Sicherheit. Wir sind oft mehr Blaulicht als Prävention", sagt Schwippert.
Viele Fälle werden nicht rechtzeitig angezeigt: "Wir wünschen uns, dass uns auffällige Kinder schnell gemeldet werden." Denn häufig müssen die Mitarbeiter Entscheidungen fällen oder Maßnahmen vorschlagen für Kinder, die sie vorher nicht kannten. Das Krankenhaus meldet etwa, eine Mutter wirke auffällig. "Dann dürfen wir uns die Schlagzeile aussuchen: Jugendamt nimmt Baby weg oder Jugendamt lässt Baby bei Junkie", sagt er.
Gemeinsam werden Ideen für richtige Maßnahme gesuchtNach der Sprechstunde treffen sich alle Mitarbeiter aus der Dienststelle im Besprechungsraum zu einer kollegialen Beratung. Brenner und ihre Kollegin haben Fragen zu einem ihrer Fälle, wissen nicht genau, wie sie weiter vorgehen sollen. In der Mitte des Raumes steht ein runder Tisch. Darauf liegt ein Holzbrett, daneben ein Stoffbeutel mit Holzfiguren. "Das ist das Familienbrett", erzählt Brenner: "Wir benutzen es, um die teilweise komplizierten Familienverhältnisse besser darstellen zu können."
Sie erzählt von der Teenager-Mutter, die nicht gruppenfähig ist, verbal ausfällig wird und mit Gegenständen um sich wirft. Gleichzeitig liebt sie ihren Sohn über alles. Es ist eine Beziehung da, doch manchmal ist sie sich selbst wichtiger, und das Kind beschäftigt sich viel mit sich selbst. Ihre Frage: "Würdet ihr Mutter und Kind trennen?" Der Reihe nach gibt jeder seinen Eindruck wieder.
"Du hast einen sehr wohlwollenden Blick auf die Mutter, trotz ihrer Aggressionen." "Frag dich, welche Auswirkungen dieses aggressive Verhalten auf ihren Sohn haben kann." "Wenn die Mutter ein Borderline-Syndrom hat und das Kind schon extreme Verhaltensauffälligkeiten zeigt, dann sind Mutter und Sohn nicht fähig, zusammenzuleben." Gemeinsam werden Ideen für die richtige Maßnahme gesucht, am Ende bedankt sich Brenner: "Jetzt weiß ich, was ich tun werde."
Ihre Kollegin braucht kein Brett. Sie erzählt von den Eltern, die mit ihrer Tochter überfordert sind. Sie sei nicht steuerbar, sagt der Vater, gehe nicht zur Schule und räume ihr Zimmer nicht auf. Er fühlt sich von der Erziehung belästigt, will einfach nur, dass sie funktioniert. "Sie ist peinlich, sie wird ohne Abschluss von der Schule gehen", sind seine Worte.
Zur Fallklärung schlägt die Moderatorin der Runde ein Rollenspiel vor, eine fachliche Methode die als Reflexionsmöglichkeit dient. Durch diese Reflexion wird der Handlungsspielraum der Kollegin erweitert. Nachdem über die Möglichkeiten gesprochen wurde, wie dem Mädchen zu helfen sei, hat auch sie nun einen klaren Kopf.
Die Sitzung wird beendet. Dem Mädchen wird wohl erst nicht gefallen, was der ASD ihr vorschlägt, aber vielleicht versteht sie, dass ihr das Jugendamt nur helfen will. So wie auch Daniela Wolf. Für sie ist die Familienhelferin vom ASD eine gute Freundin geworden.
*Namen von der Redaktion geändert.