Elena Everding

Redakteurin, Vorstand Jugendpresse Deutschland, Hannover/ Göttingen

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„Wir sind manchmal hoffnungslos": Der lange Kampf des Uiguren-Aktivisten Dolkun Isa

Er wurde gesucht, verhaftet, seine Eltern starben in Lagern: Dolkun Isa, Präsident des Weltkongresses der Uiguren, ist die wichtigste Stimme der in China unterdrückten Minderheit. Die China-Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz kritisiert er scharf und wirft deutschen Unternehmen „Komplizenschaft im Völkermord" vor. Es ist ein mühsamer Kampf um Gerechtigkeit.

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Ein vermeintlicher Terrorist spricht in der Bundespressekonferenz in Berlin - aus Sicht der chinesischen Regierung ist genau das am Dienstag kurz vor der Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz nach Peking so geschehen. Ob Dolkun Isa tatsächlich den Ausschlag für den chinesischen Botschafter gegeben hatte, sich im Vorfeld an den Veranstalter zu wenden, bleibt eine Vermutung. Sicher ist, dass China sehr genau beobachtet, wo immer der Aktivist der uigurischen Minderheit ins Licht der Öffentlichkeit tritt.

Seit 2003 steht der 55-Jähirge Isa auf der Terrorliste des Regimes als „ most wanted ", von 1999 bis 2018 auf der Interpol-Fahndungsliste. Verhaftungen in Italien und Südkorea, entzogenes Visum in Indien. Sogar zu Foren der Vereinten Nationen wurde ihm mit zweifelhaften Begründungen schon der Zutritt verwehrt. Für den 55-Jährigen ist klar, wer dahinter steckt: „China versucht mit seinem langen Arm überall hinzukommen."

Scharfe Kritik am China-Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz

Als Isa von seinen Verhaftungen erzählt, sitzt er wieder in seinem Büro nur wenige Gehminuten vom Münchner Hauptbahnhof entfernt. Über Zoom wiederholt er seine Forderung: Bundeskanzler Scholz solle seinen Besuch beim chinesischen Staatschef Xi Jinping absagen. „Das Treffen ist wie eine Beglückwünschung", sagt Isa. Es sei nicht die richtige Zeit. Nicht so kurz nach der Bestätigung von Xis dritter Amtszeit. Nicht, solange ein Völkermord an Uiguren in der autonomen Region Xinjiang stattfindet. Isas Heimat. Gesehen hat er sie seit 28 Jahren nicht mehr.

Sein Kampf beginnt Ende der Achtzigerjahre mit der Organisation von Studentenprotesten. Isa hatte genug von der täglichen Diskriminierung, die er und andere Uiguren an der Uni in Xinjiang erfuhren. Fünf Stunden habe er einmal mit einer Führungsfigur der Kommunistischen Partei diskutiert. „Heute wäre das unmöglich."

Isa führt ein Leben als Gejagter

Von der Uni fliegt er dennoch, setzt sein Studium in Peking fort. Als ihm die Verhaftung droht, flieht er in die Türkei. Führt fortan an ein Leben als Gejagter. 2004 entsteht der Weltkongress der Uiguren, Isa ist Mitbegründer. Er erhält Asyl in München und 2006 die deutsche Staatsbürgerschaft. Mit seiner Wahl zum Präsidenten der Organisation 2017 wird der Aktivist zur wohl wichtigsten Stimme der Uiguren auf der politischen Weltbühne. Sein Name ist dennoch bis heute nur wenigen ein Begriff. Dass der Uiguren-Weltkongress seinen Sitz in der bayerischen Landeshauptstadt hat, sie als politisches Zentrum der Exil-Minderheit gilt, ist ebenso wenig bekannt.

„Wie geht's dir? Gut - und dir?" So in etwa seien Isas wöchentliche Telefonate mit seinen Eltern abgelaufen, erinnert er sich. Nur Smalltalk, bloß keine Details. Seine Familie ließ er in Xinjiang zurück. „Die chinesische Regierung überwacht meine Handys." Nicht einmal in einem Videoanruf konnte Isa seine Eltern seit seiner Flucht sehen. Kein Internet. China treibt vor allem in den letzten Jahren eine Abschottung der Region voran. Keine Informationen sollen nach außen dringen, keine hinein.

Geleakte Dokumente zeigen das Grauen in Chinas „Umerziehungslagern"

Durchgesickerte Dokumente, wie zuletzt die „Xinjiang Police Files", dokumentieren jedoch das Grauen. Fotos zeigen, wie Häftlinge in den staatlichen „Umerziehungslagern" auf Folterstühlen sitzen, in Dokumenten ist die Rede von Schießbefehlen. Eine Million Uiguren sitzen in den Lagern, schätzen Expertinnen und Experten. Laut der Regierung in Peking sind sie Bildungseinrichtungen.

In solch einer Einrichtung starb Isas Mutter. „Da war sie 78 Jahre alt." Isa stockt kurz, als er davon erzählt. Es fällt ihm immer noch nicht leicht, darüber zu reden. Dennoch überwindet er sich immer wieder bei öffentlichen Auftritten. Jeder soll von der Ungerechtigkeit erfahren, die seiner Familie und zahllosen anderen angetan wurde. Isa spricht schnell, energisch, eindringlich. Oft ist eine Wut in seiner Stimme zu hören.

2017 sprach Isa zum letzten Mal mit seinen Eltern. Als Angehörige eines Aktivisten sind sie weiterhin in höchster Gefahr. Ein Jahr später - da war bereits länger Funkstille - erfährt er, was er längst geahnt hatte. Von Freunden; später bestätigen Medien den Tod der Mutter, während die Behörden abstreiten, dass sie überhaupt in einem Lager war.

Vom Tod des Vaters erfährt der Sohn zufällig

Dass auch sein Vater tot ist, erfährt Isa 2020 zufällig. In einem Video nennt seine ältere Schwester ihn einen Lügner. „Sie sagte: Du bist nicht mein Bruder." Isa ist sich sicher, die Regierung hat seine Schwester gezwungen, das zu sagen. Ihre Eltern seien nie im Lager gewesen, behauptet die Schwester, sondern aufgrund des hohen Alters gestorben. „Da dachte ich, oh, mein Vater ist also auch tot?"

Welcher Elternteil zuerst verstorben ist - genau kann das niemand sagen. Ob seine Schwester noch am Leben ist? „Keine Ahnung". Es sind viele offene Fragen. Isas jüngerer Bruder, die Information hat ihn immerhin erreicht, sitzt eine lebenslange Haftstrafe ab. Der ältere Bruder, ein Mathematikprofessor, wurde zu 17 Jahren verurteilt. „Ehrlicherweise, ich weiß nicht, wie es ihnen geht."

Wenn nicht einmal zu den Familienmitgliedern Informationen durchdringen - kann man dann westlichen Staaten vorwerfen, dass sie angeblich von den Vorgängen nichts allzu Genaues wissen? Diese Ausrede lässt Isa mittlerweile nicht mehr gelten. Zumindest nicht, seit ab 2019 immer mehr veröffentlichte Regierungsdokumente und Berichte die Verbrechen an den Uiguren ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt haben. Überlebende der Lager haben ausgesagt, auch vor westlichen Parlamenten. Die UN-Menschenrechtskommissarin spricht von schweren Menschenrechtsverletzungen. Es gebe glaubwürdige Hinweise auf Folter, Misshandlung und sexualisierte Gewalt.

Volkswagen, Siemens, BASF: Scholz fliegt nur mit Unternehmensvertretern „Sie sollten den Überlebenden der Internierungslager zuhören"

Dolkun Isa, Präsident des Weltkongresses der Uiguren

Dass der Bundeskanzler dennoch mit einer reinen Wirtschaftsdelegation nach Peking reist, versteht Isa nicht. Volkswagen, Siemens, BASF: Scholz fliegt in Begleitung von Firmenbossen, die enge Verbindungen zur Provinz Xinjiang haben, teils dort produzieren. „Sie sagen, sie helfen damit der wirtschaftlichen Entwicklung", sagt Isa. „Nein!" Die deutschen Unternehmen verschlössen die Augen vor der Zwangsarbeit, in die sie verwickelt seien, teils indirekt über Lieferketten. „Sie wissen das sehr genau." Forderungen von Isas Organisation, die Fabriken zu schließen, verhallten. Stattdessen verteidigt VW sein Engagement in der Uiguren-Region. Für Isa ist ihre Mitschuld eindeutig: „Das ist Komplizenschaft im Völkermord".

Unerhört seien bisher auch Bitten um ein Gespräch mit Regierungsvertretern gewesen, beklagt der 55-Jährige. Merkel, später Scholz und Baerbock habe er gebeten, eine Uiguren-Delegation zu treffen. „Sie sollten den Überlebenden der Internierungslager zuhören", sagt Isa. „Wenigstens vor Scholz' Besuch in China." Aber: keine Antwort.

Es geht Isa mehr als um den Kampf um Gerechtigkeit für seine Familie, sein Volk. Er sorgt sich, dass die Unterdrückung der Uiguren ein Exportmodell werden könnte. Schon jetzt nutzten andere Staaten die chinesischen Überwachungstechnologien für ihre eigene Bevölkerung. „Das ist kein Uiguren-Problem." Demokratie gegen autoritäre Systeme, darum geht es eigentlich, sagt Isa. Er fragt sich: Wenn China jetzt nicht gestoppt wird, was ist dann in 20, 30 Jahren? „In was für einer Welt leben wir dann?"

Enttäuscht. So fühle nicht nur er, sondern auch viele andere der rund 1000 Exil-Uiguren in Deutschland. Depressionen, psychische Probleme seien die Folgen der Unwissenheit oder aber der schrecklichen Gewissheit über das Schicksal von in der Heimat verbliebenen Familienmitgliedern. „Wir brauchen die moralische Unterstützung", sagt Isa. Ein bisschen Hoffnung. Er wird weiter Briefe schicken, Reden halten, Presseerklärungen herausgeben. Olaf Scholz wird dennoch Xi Jinping mit einem freundlichen Lächeln die Hand schütteln, die Wirtschaftsbosse in Peking ihre Geschäfte vorantreiben. Da macht sich Isa keine Illusionen. „Wir sind manchmal hoffnungslos, ja".

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