Es sei ein spezielles Gefühl, auf dem Hochseil zu stehen. Man brauche das Herz eines Vogels, sagt Igor Tsisov, Leiter der Hochseil-Truppe des Zirkus Flic Flac. Wer auf dem Podest dort oben steht, von wo sich das Seil zur anderen Seite hinüberspannt, versteht, was er damit meint. Auf dem Drahtseil etwa vier Meter über dem Boden des Riesenzelts kann man sich fast wie ein Vogel fühlen. So selbstverständlich, frei und locker, wie sich die sechs Artisten der russischen Tsisov-Truppe auf dem schräg gespannten Drahtseil bewegen, könnte man glauben, sie hätten Flügel. In einer Demonstrationsübung für die Journalisten läuft ein Artist ohne Sicherungsleine über das Seil. Seine Partnerin steht erst auf seinen Schultern, dann balanciert sie auf seinem Kopf.
Beim Selbstversuch im Flic-Flac-Zelt am Ratsweg bemerkt man als Nichtartist, wie viel Können, Training und Konzentration hinter dieser Leichtigkeit stecken. Das einfache Balancieren klappt - beim dritten Versuch und dank der Hilfe eines straff gespannten Sicherungsseils. Der gewöhnliche Mensch spaziert eben nur angeschnallt durch die Luft.
Die Bulgaren Miroslav Toskov und Nicolay Dobrovolov sind auch auf Hilfe angewiesen. Ein Seilzug muss ihre Strapaten in den Zelthimmel hochziehen. Wenn man den beiden Artisten bei ihren Übungen in luftiger Höhe zuschaut, könnte man meinen, die Schwerkraft übe keinen Einfluss mehr auf sie aus. „Sie turnen aufeinander herum", scherzt Pressefrau Iris Vollmann vom Zirkus Flic Flac. Der Eleganz und Leichtigkeit, mit der die beiden Akrobaten ebendies tun, kann das Wort „turnen" aber nicht im Ansatz gerecht werden. Sie drehen sich federleicht und unfassbar präzise an den Seilen bis zu acht Meter hoch und sausen im Höllentempo wieder herunter, sie schwingen umeinander herum, tauschen die Positionen und verharren, ineinander verklammert, waagerecht in den Seilen.
Was so leicht aussieht, stellt sich für uns probierende Gäste schon in unmittelbarer Bodennähe und ohne Partner als überaus anstrengend heraus. In den Seilen hängend, nach nur einer 270-Grad-Drehung, mit leicht überstreckten Schultern merkt man trotz der Hilfestellung der beiden Profi-Artisten, wie schwierig die Strapaten-Kunst ist. Würden wir uns wie die Artisten in acht Metern Höhe bewegen, wäre wohl unser Leben aufs höchste gefährdet. Die beiden Bulgaren, die solche Kunststücke jeden Abend vorführen, sind hervorragend ausgebildet und hochkonzentriert. Aber sie wissen, dass ihre Arbeit immer gefährlich ist. Glück wünschen Artisten sich deshalb mit „Toi, toi, toi" und nicht mit „Hals- und Beinbruch". Man muss das Unglück ja nicht heraufbeschwören.
Waghalsige Motorrad-ChoreographieSicherheit steht an erster Stelle im Zirkus Flic Flac. Vor ihrer Demonstrationsfahrt in der Todeskugel ziehen die kolumbianischen Motorradartisten die Schrauben ihrer zweieinhalb Tonnen schweren Stahlkugel nach, bevor sie mit ihren Maschinen hineinfahren. Der „Globe of Speed" ist ein Flic-Flac-Klassiker, er ist der einzige Teil der Show, der nicht alle zwei Jahre ausgetauscht wird. Die waghalsige Motorrad-Choreographie der acht Kolumbianer, die alle gleichzeitig durch die Kugel mit 5,6 Meter Durchmesser rasen, ist bereits seit 2004 im Programm. 2006 hat die Truppe sogar mit neun Fahrern den Weltrekord aufgestellt. Auf der jetzigen Abschiedstour von Flic Flac, die unter dem Titel „Artgerecht" noch bis zum 24. Mai in Frankfurt haltmacht, fahren sie also fast auf Weltrekordniveau.
Wer in diesem Stahlball steht und zwei Fahrer um sich brettern sieht, kann sich vorstellen, wie eng und hektisch es während der Vorstellung zugehen muss. Der Motorenlärm prasselt von allen Seiten auf einen ein, man kann die Maschinen, die mit einem Tempo von bis zu 80 Stundenkilometern über einem vorbeibrausen, kaum wahrnehmen. Von allen Richtungen rasen sie auf einen zu und an einem vorbei. Jetzt entdecken auch die Gäste ihr Vogelherz. Man möchte raus. Einfach wegfliegen. Die Zuschauertribüne wäre ein idealer Landeplatz.