Wissenschaftler entdecken Dankbarkeit: Warum die alte Tugend Depressivität senkt und sogar kranke Herzen heilt
Im Lichterschein des Tannenbaums, wenn das Geschenkpapier knistert und Bratenduft aus der Küche zieht, spüren viele Menschen das Gefühl von Dankbarkeit. Doch in der Regel verfliegt es schnell: schon bei den ersten Sticheleien der Verwandtschaft, beim Kater am morgen danach, bei der Rückkehr an den Arbeitsplatz.
Dabei kann Dankbarkeit helfen - nicht nur an Weihnachten -, unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden und die seelische Abwehrkraft zu stärken. Internationale Forscherteams haben in Studien herausgefunden, dass Dankbarkeit sogar die Heilung von Krankheiten begünstigt. Deswegen wird versucht, sie auf unterschiedlichen Wegen im Alltag zu festigen.
Je dankbarer, desto optimistischer
Robert Emmons aus Kalifornien machte Dankbarkeit unfreiwillig zum Gegenstand seiner Arbeit und gehörte damit zu den ersten Wissenschaftlern auf dem Gebiet. In einer Forschergruppe war ihm das Thema zugeteilt worden, er sollte vor Kollegen darüber referieren.Der Psychologe startete daher 2003 gemeinsam mit seinem Kollegen Michael McCullough drei Studien, die mit Dankbarkeitsinterventionen arbeiteten. Die ersten beiden unterschieden sich hinsichtlich der Stärke und Häufigkeit, also der "Dosis" der Intervention, die dritte testete Dankbarkeit nicht an Studenten, wie die ersten beiden, sondern an Menschen mit einer chronischen Erkrankung.
Die Psychologen teilten in ihrer zentralen Studie 192 Probanden in drei Gruppen. Die eine sollte zehn Wochen lang in einem Tagebuch notieren, wofür sie Dankbarkeit empfand, die zweite, was in der jeweiligen Woche schlecht gelaufen war, und eine dritte Gruppe reflektierte neutral über ihre Erlebnisse. Nach zehn Wochen verglichen Emmons und McCullough die Ergebnisse.
Jene, die das Dankbarkeitstagebuch geführt hatten, wiesen bei den psychologischen Befragungen messbar mehr Optimismus auf als die Probanden der anderen beiden Gruppen. Sie fühlten sich vital und verspürten mehr Lebensfreude. Körperliche Symptome wie Bauch- oder Kopfschmerzen, Schwindel oder Muskelverspannungen hatten sich reduziert, sie gingen seltener zum Arzt, schliefen länger und besser. Auch ihre Fitness war besser geworden, und sie trieben messbar mehr Sport als die Vergleichsgruppen.
Weniger Angst, Neid und Wut
War dies direkt auf Dankbarkeit zurückzuführen? Oder wäre die positive Wirkung auch mit bloßem positiven Denken erzielbar gewesen? Schließlich erfüllen die Untersuchungen heute betrachtet nicht alle Standards für wissenschaftliche Studien. Vor dem Hintergrund dieser Fragen präsentierten die Forscher die These, dass Dankbarkeit unter den positiven Emotionen besonders mit Wohlbefinden korreliere, weil sie eine soziale Seite habe. Die Probanden waren dankbar für Dinge, die sie von anderen empfangen hatten. Sie empfanden Dank für externe Umstände und Menschen, die ihr Leben positiv beeinflussten.
Und tatsächlich: Bei einer genaueren Befragung der Teilnehmer stellte sich heraus, dass sich die sozialen Bindungen durch die Dankbarkeitsintervention weiter verstärkt hatten, die Dankbaren verbuchten darüber hinaus größere Fortschritte im Bereich Motivation und beim Erreichen wichtiger Ziele.
Galt Emmons anfangs als Exot, gehen Psychologen verschiedener Richtungen mittlerweile davon aus, dass Dankbarkeit bei der Prävention von Angst- und Panikerkrankungen helfen, Phobien mildern und wie ein Schutzfaktor vor Depressionen und Suchterkrankungen wirken kann. Denn Gefühle wie Angst, Neid, Wut, so die Erklärung der Experten, können schwer neben Dankbarkeit existieren. Es sei fast unmöglich, zugleich frustriert und dankbar zu sein.
Dankbarkeit schützt das Herz
Inzwischen haben Forscher dies weiter untersucht: Ein Versuch legt nahe, dass Dankbarkeitsübungen das Glücksniveau um 25 Prozent heben und Antidepressiva bei leichten bis mittelschweren Depressionen ersetzen können. Auch posttraumatischer Stress ließ sich durch Dankbarkeitsinterventionen lindern.
Mittlerweile erforscht auch die Schulmedizin das Dankbarkeitsgefühl. Paul J. Mills, spezialisiert auf Psychoneuroimmunologie und Psychosomatik, entdeckte, dass Dankbarkeit die Herzgesundheit von Herzpatienten unterstützt. 186 Männer und Frauen nahmen an seiner Studie teil: Sie litten unter einer Herzschwäche (Herzinsuffizienz im Stadium B), bei der sie noch keinerlei körperliche Symptome hatten. Als einige von ihnen ein Dankbarkeitstagebuch führten, besserte sich ihre körperliche Verfassung, und ein Abrutschen in Phase C konnte verhindert werden. Da Mills mit einer Kontrollgruppe arbeitete, die keine Dankbarkeitsintervention bekam, führte er die positiven gesundheitlichen Effekte auf die Herzgesundheit direkt auf die Dankbarkeit zurück.
Mills geht davon aus, dass Dankbarkeit den Vagusnerv im menschlichen Körper aktiviert, der Teil unseres körpereigenen Ruhesystems, des sogenannten Parasympathikus, ist. Chronischer Stress könne so gesenkt werden, was zu Gelassenheit führe. Das Herz vermag sich durch Dankbarkeitsübungen offenbar besser selbst zu regulieren und seinen Rhythmus zu beruhigen. Mills: "Wir stellten fest, dass bei jenen Patienten, die täglich in ihr Dankbarkeitstagebuch schrieben, gleich mehrere Entzündungsmarker sanken. Gleichzeitig erhöhte sich die Herzfrequenzvariabilität, was mit einem geringeren Infarktrisiko gleichzusetzen ist."
Mills folgert, dass "ein Dankbarkeitstagebuch offenbar eine einfache Methode darstellt, die Herzgesundheit zu verbessern". Andere Wissenschaftler beobachteten, dass sich der Blutdruck durch Dankbarkeitsübungen um 25 Prozent senken ließ.
Den Dankbarkeitsmuskel trainieren
Neben den positiven Effekten der Dankbarkeit kennen Forscher auch Einschränkungen. So profitierten etwa geschiedene Frauen mittleren Alters nicht von Dankbarkeitsinterventionen. Und auch Kinder und Jugendliche verspürten nach dem Schreiben eines Dankbarkeitsbriefes nicht mehr Glück.
Dankbarkeit, so hat es der Psychologe Willibald Ruch formuliert, könne wie ein Muskel trainiert werden. Nach einiger Zeit seien die Wirkungen sogar als neurobiologische Veränderung im Gehirnscan sichtbar, berichten Wissenschaftler der University of Indiana.
Psychologen an der Leuphana Universität Lüneburg haben daher ein Onlinetraining entwickelt. "Dankbarkeit sollte durch Routinen etabliert werden", sagt Dirk Lehr, Leiter des Programms. Das Angebot besteht aus einem Onlinetraining und einer Handy-App: "Uns interessierte die Wirkung auf Menschen mit einer starken Grübel- und Sorgenneigung."
Die Ergebnisse, so Lehr, hätten ihre Erwartungen deutlich übertroffen. "Dankbarkeitsübungen reduzierten die Sorgen- und Grübelneigung der Teilnehmer nachweislich." Das Training habe sich positiv auf Zuversicht, Stressresistenz und Depressivität ausgewirkt.
Das Lüneburger Dankbarkeitstraining fördert die Fähigkeit, positive Dinge wahrzunehmen. Lehr spricht von einer "Aufwärtsspirale von Dankbarkeit und Wohlbefinden": Eine positive Grundstimmung sei der beste Nährboden, um mehr Gutes zu entdecken. Die Wissenschaftlerin Barbara Fredrickson beschreibt einen Broaden-and-Built-Effekt der Dankbarkeit, gelebte Dankbarkeit ziehe weitere günstige Effekte nach sich wie Kreativität, bessere soziale Integration und Resilienz.
Hat Dankbarkeit auch schädliche Seiten?
Warum wirkt Dankbarkeit? "Wir alle haben evolutionär eine solche Aufmerksamkeit auf das Negative, eine Defizitbrille, die durch Dankbarkeit etwas korrigiert wird", so Lehr. Sie dreht den Suchscheinwerfer um. Wo normalerweise die Mangelbrille herrschte, erscheint zunehmend Fülle. Der Forscher glaubt nach einem Selbstversuch, dass Dankbarkeitstraining Negatives zwar nicht fortnimmt, es aber Krisen die Schärfe nehmen kann.
Sein Kollege, der Brite Alex Wood, gilt weltweit als einer der renommiertesten Dankbarkeitsforscher. Er hat sich mit den negativen Seiten der Dankbarkeit beschäftigt, etwa ob sie den Blick für die Realität vernebeln und zu Passivität führen könne. Sein Eindruck: "Die meisten Menschen empfinden chronisch zu wenig Dankbarkeit. Sie führt zu einem ganzheitlicheren Bild der Wirklichkeit, in dem selbstverständlich auch Negatives seinen Platz hat."
Damit der Dankbarkeitsmuskel nicht erlahmt, empfehlen Dirk Lehr und sein Team jedoch regelmäßige Pausen: So verhindere man, dass es zum Muskelkater komme.