ZEITmagazin ONLINE: Herr Anadologlu, hinter dem Tresen Ihrer Bar sieht es aus wie in einem Chemielabor.
Cihan Anadologlu: Wir sind Handwerker und arbeiten sehr präzise. Mit Flaschen rumwerfen wie in dem Film Cocktail mit Tom Cruise ist bei uns nicht.
ZEITmagazin ONLINE: Welche Geräte setzen Sie ein?
Anadologlu: Zum Beispiel einen Rotationsverdampfer, der sonst in der Molekularküche zu Hause ist, einen Dörrautomaten oder Vakuumgeräte. Für einen "Avocado-infused Gin" nutze ich Sous-vide-Technik, also ein Wasserbad. Dabei kommen Avocadostücke bei 62 Grad für eine halbe Stunde in den Gin, um das Avocadoaroma in die Spirituose zu bekommen. Ich grille und karamellisiere auch Früchte, um mit gegrilltem Limettensaft ein Röstaroma im Getränk zu wecken.
Cihan Anadologlu
Er ist Besitzer der Circle Bar im Münchener Membership-Club Hearthouse, die mehrfach als besonders innovative Bar ausgezeichnet wurde. Zuvor hat er in Schumann's Bar als Chef-Bartender gearbeitet, nach Stationen in New York, Hongkong und London. Der 36-Jährige hat 2017 außerdem das Rezeptbuch "Bar Bibel" veröffentlicht.
ZEITmagazin ONLINE: Dann arbeiten Sie eigentlich wie ein Sternekoch.
Anadologlu: Wir machen Sachen, die, ehrlich gesagt, nicht mal da passieren. Ein Whisky Sour sieht eigentlich wie ein naturtrüber Apfelsaft aus. Ich gebe den in den Rotationsverdampfer und heraus kommt ein Whisky, der klar ist, wie Wasser. Ich finde: Jeder Drink muss das Auge verblüffen.
ZEITmagazin ONLINE: Mit welchen Optiken überraschen Sie die Gäste sonst?
Anadologlu: Bei dem Klassiker Sex on The Beach fand ich eines Tages, dass man ihn nicht mehr in der alten Form präsentieren kann. Wir servieren den Drink nun in einer essbaren Gelatinehülle in Form eines Kondoms. Die liegt wiederum auf einem Griesbett als Strand.
ZEITmagazin ONLINE: Woher kommen die Ideen für Ihre Cocktails?
Anadologlu: Manchmal fallen mir morgens um sechs nach einem Traum Kombinationen ein. Kreativität kann man nicht fordern. Ich habe in Kyoto mal einen Burger gegessen, und mir kam bei dem fleischigen Geschmack plötzlich eine Idee. Ich habe das Fett vom Koberind später in einen Drink gepackt. Der japanische Whisky wurde "fett gewaschen", so nennen wir Barmänner das, mit Kobebeef. Hinzu kam noch ein japanischer Sirup.
ZEITmagazin ONLINE: Und wie hat das geschmeckt?
Anadologlu: Der Geschmack nennt sich Umami. Das ist die fünfte Geschmacksrichtung, und sie bedeutet fleischig, herzhaft. Ich war, glaube ich, der Erste, der einen Umami-Geschmack in einen Drink gepackt hat.
ZEITmagazin ONLINE: Tatsächlich reden ja gerade alle von Umami, allerdings eher bei Suppen. Ist das ein neuer Trend an der Bar?
Anadologlu: Ich kümmere mich wenig um Trends. Aber der herzhafte Geschmack ist tatsächlich sehr interessant für uns Barmänner. Einer meiner Cocktails mit Parmesanschaum hatte ebenfalls einen vollen Umami-Geschmack. Im Winter infusioniere ich einen Gin mit Shiitakepilzen und Trüffeln. Absolut herausfordernd im Geschmack.
ZEITmagazin ONLINE: Ist Umami-Geschmack eigentlich auch gut zur Katerbekämpfung?
Anadologlu: Beim Katergetränk muss ich spontan an eine Bloody Mary denken. Ich habe eine Variante mit japanischer Misopaste, die bringt einen ultimativen Umamigeschmack. Also, ja, vermutlich.
ZEITmagazin ONLINE: Welche ungewöhnlichen Aromen kann ich als Gast noch bei Ihnen erleben?
Anadologlu: Für mich ist wichtig, ob etwas zu meiner jeweiligen Kreation passt. Ich habe bereits Amber in meine Drinks eingebaut, das ist Walkotze. Ebenso Foie Gras. Oder einen Tequila mit Seetang infusioniert, um den Geschmack von Meer zu schaffen. Es braucht nicht viele Zutaten für einen guten Drink. Ungewöhnlich ist vielleicht einer meiner Cocktails auf der Basis von Süßkartoffel, Schokolade, Matchatee, Yuzu und Gin. Dieser Cocktail fordert beim ersten Geschmack gleich alle Geschmackssinne, darauf kommt es an.
ZEITmagazin ONLINE: Vergangenen Sommer waren geräucherte Drinks in, was halten Sie davon?
Anadologlu: Vieles halte ich für Effekthascherei. Aber ich serviere auch einen weißen Tequila mit Koriander, Agave und Limette. Die Garnitur besteht aus geräuchertem Meersalz, das ich im Ofen selbst räuchere, um den Geschmack abzurunden. Den kann man sehr gut zur Grillparty reichen.