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Als Foucault in Hamburg lehrte

Michel Foucault Anfang der 1960er Jahre (Foto: Jürgen Schmidt-Radefeldt)

Michel Foucault war einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts. Vor 60 Jahren kam der Franzose für ein Jahr nach Hamburg, schloss hier seine Doktorarbeit ab und verbrachte viel Zeit auf St. Pauli. Und er lehrte an der Universität Hamburg - mit damals noch unkonventionellen Methoden.


Philosophie, Psychologie, Soziologie, Geschichte, Kulturwissenschaften: Michel Foucault war einer der wenigen Wissenschaftler, deren Werke bahnbrechend für gleich mehrere Disziplinen waren. Er untersuchte zum Beispiel, wie die Gesellschaft mit vermeintlichen Außenseitern wie etwa psychisch Kranken umging. Und er analysierte Repression und Bestrafung in Schulen, Gefängnissen oder Kasernen. Außerdem schrieb er ein Standardwerk zur Sexualität in der Geschichte. Mit seinen Schriften gab er Forschenden wichtige Mittel an die Hand, um gesellschaftliche Machtverhältnisse und Diskurse zu analysieren.


Ankunft als unbekannter Nachwuchsforscher

Im Oktober 1959, als Foucault nach Hamburg kam, war er als Wissenschaftler noch kaum bekannt. Er war gerade dabei, seine Promotion in Philosophie abzuschließen, als er mit knapp 33 Jahren neuer Direktor des Institut Français in der Hansestadt wurde. Diese Einrichtung ist ein französisches Pendant zum Goethe-Institut, das Interesse an Frankreichs Sprache und Kultur wecken soll und das noch heute in einer Villa an der Heimhuder Straße untergebracht ist. Mit dem Amt des Direktors war damals ein Lehrauftrag am Romanischen Seminar der Universität Hamburg verbunden.


Vor seinem Dienstantritt hatte Foucault bereits ähnliche französische Einrichtungen geleitet, im schwedischen Uppsala und im polnischen Warschau. „Nach drei Jahren im kleinen Uppsala war er dort zunehmend vereinsamt. Schon damals wollte er am liebsten in die Bundesrepublik wechseln", sagt Prof. Dr. Rainer Nicolaysen von der Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte, der Foucaults Hamburger Zeit erforscht hat. „Stattdessen wurde er aber nach Warschau versetzt, wo ihm der Aufbau eines französischen Kulturzentrums anvertraut wurde. Seinen Polen-Aufenthalt musste Foucault allerdings nach einem Jahr fluchtartig beenden, als sich herausstellte, dass ein junger Mann, mit dem er eine Affäre begonnen hatte, von der polnischen Polizei als Spitzel auf ihn angesetzt worden war."


Ein Workaholic auf der Reeperbahn

Foucault brauchte einen Neuanfang. Für die Bundesrepublik sprach seine Affinität zu deutschen Philosophen und auch zur deutschen Sprache, für Hamburg sprachen die Möglichkeiten einer Großstadt. „In Hamburg kannte sich Foucault bald bestens aus, auch die Geschichte der Hansestadt war ihm vertraut", erklärt Nicolaysen. „Und besonders interessierte ihn das Nachtleben rund um die Reeperbahn. Dabei war Foucaults Arbeitspensum enorm. Er kann damals eigentlich kaum geschlafen haben: Tagsüber leitete er das Institut Français, gab seiner Doktorarbeit den letzten Schliff oder saß im heutigen Altbau der Staats- und Universitätsbibliothek an seiner großen Kant-Übersetzung ins Französische. Zudem hatte er zwei Lehrveranstaltungen pro Semester für das Romanische Seminar der Universität zu halten. Und nachts fanden dann seine Streifzüge durch das schwule Sankt Pauli statt - was auch für Foucault nicht ohne Risiko war in Zeiten, in denen homosexuelle Handlungen zwischen Männern in der Bundesrepublik noch mit Gefängnis bestraft wurden."


Dr. Jürgen Schmidt-Radefeldt erlebte den Franzosen trotzdem immer als hellwach. Der emeritierte Rostocker Romanistik-Professor studierte damals an der Universität Hamburg und besuchte zwei Seminare bei Foucault. In einem besprachen sie die Werke des franko-schweizerischen Aufklärers Jean-Jacques Rousseau, in einem anderen den Existenzialismus, eine damals noch recht neue philosophische Richtung aus Frankreich.


Ein unkonventioneller Dozent

„Wir waren rund ein Dutzend Studierende, die sich immer Mittwochnachmittags im Institut Français einfanden", erinnert sich Schmidt-Radefeldt. „Wir saßen in einem kleinen Saal an Tischen im Halbrund, während Foucault langsam vor uns hin- und her schritt und frei auf Französisch vortrug. In seinem Kopf schien er dabei stets das Manuskript für seinen Vortrag gespeichert zu haben. Er sprach äußerst gewählt, fast druckreif, und dennoch locker. Nur wenn er jemanden zitierte, zog er einen kleinen Zettel aus seinem Sakko und las ab."

Im Anschluss an seine Vorträge fragte der Philosoph die Studierenden nach ihrer Meinung. Dann begannen meistens intensive Diskussionen. „Das empfanden wir als ziemlich unkonventionell. Denn damals packten die meisten anderen Dozenten ihr Manuskript nach ihrem Vortrag ein, rückten ihre Krawatte zurecht und gingen wortlos aus dem Raum", so Schmidt-Radefeldt. „Uns Studierenden schienen sie sich jedenfalls überlegen zu fühlen."


Ein Welterfolg, in Hamburg vollendet

Foucault dagegen trat wie ihr Gegenteil auf: „Nach den Seminarstunden lud er uns oft auf einen Wein ein," erinnert sich Schmidt-Radefeldt. „In einem Vorraum des Instituts standen wir dann in kleinen Grüppchen an Stehtischen, und er ging zu jedem einzelnen hin. Da ging es dann um hochphilosophische Fragen: Warum gibt es Normen und Gesetze? Welche Pflichten hat man als Staatsbürger? Gibt es ein Recht des Stärkeren? Damals hat uns das schwer beindruckt: Da war dieser Dozent, der sich mit den Machtstrukturen und der Gesprächskultur der Gesellschaft befasst - und der dann auch konsequent seine Machtstellung als Dozent zurücknimmt, um mit uns einen Diskurs auf Augenhöhe zu führen."


„Ich habe Foucault damals immer wieder mit Zeitungsartikeln versorgt", erzählt der emeritierte Romanist. „In Lüneburg trieb damals ein Feuerteufel sein Unwesen, der historische Altstadthäuser anzündete. Foucault war geradezu fasziniert von dessen irrsinnigen Taten." Irrsinn - darum ging es auch in Foucaults Doktorarbeit. In Hamburg schloss er sie im Frühjahr 1960 ab. Unter dem Titel „Histoire de la Folie", auf Deutsch erschienen als „Wahnsinn und Gesellschaft", wurde sie später weltbekannt.


Foucault nahm jeden Menschen ernst

Im Sommer 1960, nach nur zwei Semestern, verließ Foucault die Hansestadt schon wieder. Die Universität von Clermont-Ferrand hatte ihm eine Stelle angeboten, die nach Abschluss der Promotion in eine Professur umgewandelt werden sollte. Für Jürgen Schmidt-Radefeldt waren die Seminare prägend, die Foucault für die Universität Hamburg ausrichtete: „Als Dozent ist er mir immer ein Vorbild geblieben, weil er uns eindrücklich vorlebte, wie wichtig es ist, die Gedanken aller Menschen ernst zu nehmen - egal, wer oder was sie sind."

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