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„Gangsta-Rap: ein Ausdruck des neoliberalen Zeitgeistes"

Verwegener Look und einschüchternde Blicke: So inszenieren sich viele deutsche Gangsta-Rapper (hier der Musiker Massiv). [Foto: Foto: Asfand Saeed

Keine Musikrichtung wird mehr gestreamt als deutscher Gangsta-Rap. Dr. Martin Seeliger vom Fachbereich Soziologie erklärt, warum Gangsta-Rapper so viel Wert auf Status-Symbole legen - und wie das mit der gesellschaftlichen Ausgrenzung der sogenannten „Gastarbeiter" zusammenhängt.


20 Nummer-Eins-Hits in den deutschen Charts, und das in weniger als zwei Jahren - davon hätten selbst die Beatles nur träumen können. Gelungen ist das dem Gangsta-Rapper Capital Bra, und auch andere Vertreter seines Genres werden täglich millionenfach gestreamt. Welche Ideale und Gesellschaftsbilder propagieren Musiker wie sie? Und wie inszenieren sie sich? Mit solchen Fragen beschäftigt sich der Soziologe Dr. Martin Seeliger. Er untersucht das Phänomen Gangsta-Rap seit Anfang der 2010er Jahre und schreibt gerade sein zweites Buch darüber.


Herr Dr. Seeliger, wie würden Sie als Wissenschaftler deutschen Gangsta-Rap beschreiben?

Deutscher Gangsta Rap ist ein männerdominiertes Genre des Hip Hops - und zwar eines, dass davon lebt, mit gesellschaftlichen Tabubrüchen zu provozieren. Der Prototyp des Gangsta-Rappers ist ein junger Mann mit Migrationshintergrund und geringer Bildung, der sich häufig gewaltaffin gibt. Außerdem spielen Statussymbole in diesem Genre eine wichtige Rolle: etwa große Autos, teurer Schmuck oder auch attraktive Frauen und eine einschüchternde Gefolgschaft.


Warum spielen Statussymbole eine so wichtige Rolle?

Statussymbole drücken den sozialen Aufstieg aus. Und um den dreht sich alles beim Gangsta-Rap. Diese Fixierung kann man historisch erklären: Die meisten Gangsta-Rapper haben ihre familiären Wurzeln in Migrantengruppen, die seit den späten 1950er Jahren nach Deutschland kamen. Als sogenannte „Gastarbeiter" standen diese sozial gesehen auf der unteren Stufe der Gesellschaft. Sie hatten harte, schlecht bezahlte Jobs und wohnten häufig in Armenquartieren. Wenn es geflüchtete Staatenlose waren, grenzte man sie auch ganz offiziell aus: Sie genossen dann ein nur begrenztes Aufenthaltsrecht, erhielten nur gekürzte Sozialleistungen und ihre Kinder wurden von der Schulpflicht ausgenommen.


Die ersten beiden Generationen dieser Migrantengruppen blieben unauffällig - vielleicht auch, weil sie Deutschland noch als vorübergehenden Aufenthaltsort betrachteten. Einige ihrer Nachkommen machen jetzt mit Gangsta-Rap auf sich aufmerksam. Und für diese ist eine Haltung charakteristisch, die irgendwo zwischen Trotz und Unterordnung liegt: Man kann es auch mit Migrationshintergrund nach ganz oben schaffen - und zwar ohne den klassischen Bildungsweg gehen zu müssen.


Also wirkt die historische Ausgrenzung immer noch nach?

Ja. Aus vielen soziologischen Studien wissen wir, dass sich solche Erfahrungen tief in das Familiengedächtnis einprägen und über Generationen weitergegeben werden. Dasselbe gilt auch für den sozialen Status: Wer auf den unteren Stufen der Gesellschaft steht, dessen Kinder und Enkel haben es schwerer, zu Wohlstand zu gelangen - umso mehr, wenn sie aus einer Familie mit Migrationshintergrund stammen. Deshalb spricht aus vielen Gangsta-Rap-Texten eine historische Kränkung, mit dem Tenor: Ihr Deutschen sitzt da in euren Einfamilienhäusern im gemachten Nest und wir mussten immer kämpfen. Trotzdem wäre es zu einfach, diese Musikrichtung nur damit zu erklären. Sie ist nämlich auch ein Ausdruck des neoliberalen Zeitgeistes.


Was ist an Gangsta-Rap neoliberal?

Gangsta-Rap dreht sich um Erfolg und darum, wie man ihn erlangt und aufrechterhält. Die Musiker inszenieren sich dabei mit ihren Statussymbolen als die Erfolgreichsten von allen. Dieses Etwas-Erreichen-Wollen und die damit verbundene Selbstoptimierung sind zutiefst neoliberale Werte. Insofern ist Gangsta-Rap ein Spiegel der Gesellschaft - wenn auch ein Zerrspiegel.


Was verzerrt diese Musik?

Die Realität. Denn Rapper verharmlosen und übertreiben sie in ihren Texten gleichermaßen. Wenn sie etwa ihren Gefängnisaufenthalt thematisieren, sagen sie nicht: Ich habe den ganzen Tag in einem kargen Raum gesessen und mich gelangweilt. Stattdessen beschwören sie eine abenteuerliche Welt, in der sie sich inmitten von gefährlichen Typen als eine Art Alphatier behaupten mussten. Ich selber untersuche jedoch weniger, wie authentisch die Geschichten dieser Musiker sind, sondern wie sie sich inszenieren, also welches Bild sie von sich zeichnen.


Wie gehen Sie dabei vor?

Ich analysiere die Musik, die Texte und die Musikvideos mit einem soziologisch-kulturwissenschaftlichen Blick. Dabei arbeite ich vor allem die Gemeinsamkeiten heraus, also zum Beispiel: Welche Themen kommen immer wieder in den Stücken vor, wie kleiden sich die Rapper, welche Statussymbole stellen sie zur Schau oder mit welcher Bildsprache arbeiten sie in ihren Musikvideos? Das ordne ich dann in das bisherige Wissen der Soziologie und der Kulturwissenschaften ein, etwa zu sozialen Schichten, Migration, sozialem Status oder Inszenierungsformen.


Warum inszenieren sich Gangsta-Rapper als besonders harte Männer?

In erster Linie würde ich sagen: weil es für sie vor dem Hintergrund ihrer biografischen Erfahrungen sinnvoll erscheint. Ich denke, die meisten Gangsta-Rapper kultivieren oder überspitzen da Idealbilder, hinter denen sie tatsächlich auch stehen. Aber die hauptsächliche Erklärung ist vermutlich: Gangsta-Rapper inszenieren sich als harte Männer, weil es ankommt. Weil die Leute das hören wollen! Hier fehlen allerdings noch wissenschaftliche Studien, um diesen Zusammenhang genauer zu beleuchten. Das gilt auch für die Frage, welche Teile der Bevölkerung deutschen Gangsta-Rap hören und warum sie das tun. Gerade hier sind interessante Erkenntnisse zu erwarten, denn bei seinem gewaltigen kommerziellen Erfolg muss es auch viele Hörerinnen und Hörer aus gut situierten bürgerlichen Kreisen geben.

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