Zu Weihnachten 1870 war es klirrend kalt in Paris. Im Deutsch-Französischen Krieg hatte die preußische Armee die Stadt umzingelt. Der 25. Dezember war bereits der 99. Tag der Belagerung, wie man auch der Speisekarte des eleganten Café Voisin entnehmen konnte. Dort erwartete die Gäste an diesem Abend ein ganz besonderes Weihnachtsmenü: Elefantenconsommé, sodann ein Entrée vom gebratenen Kamel (wahlweise Kängururagout oder Bärenkotelett in Pfeffersauce), gefolgt von getrüffelter Antilopenterrine.
Als Hauptgang offerierte der Chef de Cuisine auch "Katze, flankiert von Ratten". Doch Katzen- und Rattenfleisch gab es seit Wochen zu kaufen, dafür hätte kaum jemand den Weg in die Rue Saint-Honoré auf sich genommen. Die meisten Gäste dürften ihre Auswahl aus dem reichen Angebot exotischer Gänge getroffen haben. Denn in der Not hatte man auch Zootiere geschlachtet - und Ende Dezember erschoss man sogar die beiden beliebten Elefanten Castor und Pollux.
Die große Mehrheit der Pariser litt Hunger. Stunden zuvor war dem Schriftsteller Edmond de Goncourt beim Spaziergang die ungewöhnliche Auslage im Schaufenster eines Juweliers aufgefallen: frische Eier, in Watte gewickelt und in Schmucketuis verpackt. Dass ein Ei als Kostbarkeit gehandelt wurde, spricht Bände über die Versorgungslage. Schon zwei Wochen vor Weihnachten hatte Goncourt in seinem berühmten Tagebuch notiert: "Man spricht nur noch von dem, was man isst, was gegessen werden könnte, was sich an Essbarem findet."
Dabei hatten die Behörden im September, als Preußens Truppen das Land von Osten her überrannten, durchaus vorgesorgt. Im Gare du Nord, dem Pariser Nordbahnhof, hatte man Mühlen eingerichtet, die neuen, riesigen Markthallen mit Vorräten gefüllt und Vieh in die Stadt getrieben. Zigtausende Schweine, Schafe und Rinder grasten fortan im Bois de Boulogne, im Jardin du Luxembourg und anderen Parks der Stadt.
Der Zorn der BürgerDoch es waren viel mehr Menschen zu versorgen als sonst. Denn die Bewohner der umliegenden Dörfer drängten in die Hauptstadt und zogen Karren mit Alten, Kindern und hastig zusammengesuchten Habseligkeiten, bis sich am 19. September der Belagerungsring schloss. Preußens damaliger Ministerpräsident Otto von Bismarck, bald darauf erster deutscher Reichskanzler, soll gesagt haben, acht Tage ohne Café au Lait würden genügen, um den Widerstand der Pariser zu brechen.
Anfangs waren die Vorräte noch nicht das drängendste Problem. Paris war von jeglicher Kommunikation mit der Außenwelt abgeschnitten. Es galt, den Widerstand mit der von Tours aus betriebenen Mobilmachung zur "nationalen Verteidigung" gegen die Invasoren zu koordinieren.
Die Behörden versuchten einen Ausweg, als wäre es ein Roman von Jules Verne: Heißluftballons ließen Menschen samt Post über die erzürnten Preußen hinwegschweben, während Brieftauben mithilfe der noch neuen Mikrofiche-Technik Tausende von Depeschen sowie sehnsüchtig erwartete Briefe in die Stadt zurücktrugen.
Beim Nahrungsnachschub half das freilich nicht. "Wir können keinen Café au Lait mehr bekommen", schrieb der Maler Édouard Manet an seine Frau Suzanne, als sich Ende September 1870 das Elend schon anbahnte: Aufgebrachte Bürger warfen den Metzgern vor, sich zu bereichern. Goncourt beobachtete, wie der Laden eines Gemischtwarenhändlers aus Wut zerlegt wurde. Er hatte einem Soldaten, der die Stadt verteidigte, einen sauren Hering zum völlig überhöhten Preis verkauft. Wenige Tage später schrieb Goncourt:
"Heimtückisch schleicht sich das Pferdefleisch in die Pariser Ernährung ein. Gestern hat man mir bei Peters ein Roastbeef gebracht, an dem mein Malerblick jenes schwärzliche Rot argwöhnisch bemerkte, das von dem rosigen Rot des Rindes so verschieden ist. Der Kellner hat nur recht schwächlich versichert, dass dies Pferd Rind sei." Rattenragout und Geschnetzeltes vom KatzenrückenImmerhin konnte Goncourt es sich noch leisten, wählerisch zu sein. Andere hätten für Pferdefleisch einiges gegeben. Das öffentliche Leben war weitgehend zum Erliegen gekommen. Wer keine Arbeit mehr hatte, konnte sich auch nichts mehr zu essen kaufen.
Die Regierung gab nun Lebensmittelkarten aus. In langen Schlangen vor Schlachtereien harrten Frauen, Kinder, alte Leute schon Stunden vor Tagesanbruch in der Kälte aus und mussten zuweilen feststellen, dass nichts mehr übrig war, als sie an die Reihe kamen. Die Preise stiegen rasant. Eine Ente etwa hatte vor dem Krieg sechs bis sieben Franc gekostet und war jetzt für das Vierfache zu haben. Selbst Maultier- und Eselsfleisch fand reißenden Absatz bei jenen, die es noch bezahlen konnten.
Kutschen wurden ein seltener Anblick, dafür gehörten fortan Hunde-, Katzen- und sogar Rattenmetzgereien zum Stadtbild. Doch Paris wäre nicht Paris, wenn nicht auch daraus exquisite Gerichte entstanden wären: Einige Wagemutige drangen per Selbstversuch, wie ein weiterer Tagebuchschreiber mit Galgenhumor festhielt, zum Wohl der Allgemeinheit "in bislang unbekannte Regionen der kulinarischen Kunst" vor. Sie organisierten ein "Entdeckungsmenu" mit zehn Gängen, darunter gewagte Kompositionen wie Spieß von der Hundeleber "à la maître d'hôtel", Geschnetzeltes vom Katzenrücken oder Rattenragout mit "Sauce Robert".
Ein weiterer Connaisseur beschrieb Katzen als sehr schmackhaft, wenn man sie mit Pistazien, Oliven, Gewürzgurken und Piment zubereite. Elegante Pariserinnen wandelten derweil ihre Ankleidezimmer in Hühnerställe um. Doch schon Mitte November verhungerten die ersten Menschen. Andere starben an Pocken, Lungenentzündung oder Bronchitis - auch die Kälte forderte ihre Opfer.
Ganz Paris ein ZuchthausIn der ganzen Stadt hackten frierende Bürger die Bäume nieder oder verbrannten ihre Möbel, sogar Klaviere. Bald gab es kaum noch Heizmaterial, um das wenige, was es noch zu essen gab, zuzubereiten. Und kein Gas mehr für Privatleute, denn die Ballonproduktion und somit die Koordination der militärischen Führung hatte Vorrang.
Dann blieben auch noch die Brieftauben aus, denen die früh hereinbrechende Dunkelheit und die Kälte zusetzten. Zudem hatten die Preußen eigens Falken heranbeordert. Wochenlang lebten die Pariser in quälender Ungewissheit, ob von außen Rettung nahte, ob es sich also lohnte, trotz all der Entbehrungen weiter auszuharren - oder ob man sich besser gleich in das Unvermeidliche fügte. Goncourt schrieb resigniert:
"Es gibt nichts Peinlicheres als diesen Zustand, wo man nicht weiß, ob die Provinzarmeen in Corbeil sind oder in Bordeaux, ja nicht einmal, ob diese Armeen überhaupt sind oder nicht sind; es gibt nichts Grausameres, als in dieser Dunkelheit zu leben, in dieser Nacht, in dieser Unkenntnis des Tragischen, das einen doch bedroht. Es scheint wirklich, dass Herr von Bismarck ganz Paris in die Zelle eines Zuchthauses eingeschlossen hat."Auf den Straßen war die Not allgegenwärtig. "Es ist trübselig in einem Grad, den man sich nicht vorstellen kann", schrieb Édouard Manet an seine Frau und malte, was er sah: Frauen, die vor Kälte gebeugt Schlange standen. Eine berühmte Karikatur aus jenen Wochen zeigt magere Gestalten, die einer hinter dem anderen im Rinnstein darauf lauern, dass sich eine Ratte aus der Kanalisation wagt.
Inmitten all dieser Trostlosigkeit tauchte Anfang Dezember zum ersten Mal Antilopen- und Büffelfleisch auf der Speisekarte eines Restaurants auf. Sicher war es schwierig geworden, die Tiere zu ernähren. Doch was oft als letzter verzweifelter Akt des Durchhaltewillens der Pariser präsentiert wird, kam schwerlich jenen zugute, die es am meisten gebraucht hätten. Das Fleisch ging exklusiv an zwei Schlachter am vornehmen Boulevard Haussmann.
"Wir sind alle mager wie Streichhölzer"Der Schriftsteller Victor Hugo betonte gern, dass er fror, hungerte und litt ebenso wie der Rest der Bevölkerung. Er war jedoch einer der wenigen Glücklichen, auf deren Tellern das Fleisch der Zebras, Antilopen, Yaks landete. Oder das der Elefanten Castor und Pollux.
Wie stets, wenn es etwas zu sehen gab, war Edmond de Goncourt zur Stelle und inspizierte bei einem der Schlachter den Rüssel "des jungen Pollux", den man an einem Ehrenplatz aufgehängt hatte. Er beobachtete, wie der Lehrling zwischen "allerlei exzentrischen Hörnern" Kamelnieren verkaufte, während der Inhaber selbst das Fleisch des Elefanten feilbot: "40 Franc das Pfund Fleisch und der Rüssel... Sie finden das teuer?"
Die Pariser mussten noch vier Wochen Hunger, Kälte und das finale Bombardement ertragen, bis am 28. Januar 1871 der Waffenstillstand unterzeichnet wurde. "Es ist zu Ende", schrieb Manet. "Es gab kein Mittel mehr, die Stadt zu halten. Wir sind alle mager wie Streichhölzer." Manche waren aber magerer als andere, viele erlebten die demütigende Niederlage nicht einmal mehr.
Am selben Morgen, als der Chef des Café Voisin sein exotisches Menü vorbereitete, hatte Goncourt einen Soldaten fragen hören: "Weihnachtsfest? Bei uns sind fünf Soldaten im Zelt erfroren."