Dr. Alexandra Gittermann

Historikerin, Autorin, Fachberaterin Geschichte, Hamburg

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Angst vor Kühen

D ie Schrift, die einige Männer im Sommer 1767 in verschiedenen Teilen Deutschlands verteilten, trug den verheißungsvollen Titel "Glückshafen oder Reicher Schatz-Kasten". Im Auftrag des spanischen Königs Karl III. versprach darin ein gewisser Johann Kaspar Thürriegel, ehemals Hauptmann der preußischen Armee, ausreisewilligen Bauern und Handwerkern ein sorgenfreies Leben in Andalusien.

Wer müsse schon lange überlegen, fragte Thürriegel, wenn es darum gehe, ein Vaterland zu verlassen, in dem man wenig oder gar kein Vermögen besitze und in dem harte körperliche Arbeit kaum ausreiche, um den eigenen Körper zu erhalten? Und in dem man noch weniger hoffen könne, dass es den eigenen Kindern jemals besser ergehen werde?

Die Werbung kam an. Thürriegel sprach allen aus der Seele, die in diesen Zeiten starken Bevölkerungswachstums um ihre Existenz rangen. Immer mehr Landbewohner fanden sich außerhalb der auf Besitz gründenden Dorfgemeinschaften wieder; sie waren gezwungen, ihr Überleben dadurch zu sichern, dass sie für Tagelohn in der Landwirtschaft und im Handwerk schufteten.

Werbeschriften wie der "Glückshafen" waren für sie nichts Neues. Mancherlei Agenten zogen durchs Land, die um Emigranten warben. Friedrich II. von Preußen, Katharina II. von Russland, Maria Theresia von Österreich, ihnen allen ging es nach dem Siebenjährigen Krieg um die "Peuplierung" ihrer dünner besiedelten Territorien, nicht zuletzt damit diese Landstriche besser gegen feindliche Invasionen gefeit waren. Alle Monarchen priesen ihre fruchtbaren Besitztümer und boten Zuwanderern einige Vergünstigungen an.

Auch die Versprechungen des spanischen Königs klangen lukrativ: ein eigenes Haus, eigenes Land, Vieh, Weideflächen, alle notwendigen Werkzeuge, Saatgut, Lebensmittel für ein Jahr und nicht zuletzt Steuerfreiheit für zehn Jahre - all das sicherte Karl III. denjenigen zu, die bereit waren, sich in der Sierra Morena niederzulassen.

Als Vermittler malte der Anwerber Thürriegel den Auswanderern ein verlockendes Bild ihrer neuen Heimat aus, in der sie in ewigem Frühling auf eigenem Land ein Leben führen könnten, das frei sein würde von vielen Belastungen, unter denen sie gegenwärtig zu leiden hatten. Der spanische Boden bringe nicht nur eine Vielfalt von Feldfrüchten hervor, sondern auch den besten Wein der Welt, dazu Vieh und Wild aller Art. Obstbäume wüchsen "auf allen Hügeln und Thälern", und die Lage Spaniens begünstige den Handel mit der ganzen Welt.

Kein Wunder also, dass der "Glückshafen" durchschlagenden Erfolg hatte. Im Juni erst hatte Thürriegel von Frankfurt aus mit der Werbung begonnen. Schon Ende September, viel früher als erwartet, kamen die ersten Siedler in Spanien an, knapp 8000 sollten es zwei Jahre später sein.

Das ganze Unternehmen war nicht ohne Risiko. Untertanen abzuwerben war streng verboten, da der Reichtum an Menschen als Grundlage für den finanziellen Wohlstand der Staaten galt. Die Behörden verschiedener deutscher Länder hatten Wind von Thürriegels Vorhaben bekommen. Man fahndete nach ihm und seinen Gehilfen und drohte ihnen mit der Todesstrafe.

Der Aufbruch einiger Familien konnte verhindert werden. Manche gaben sich daraufhin angeblich sogar als Jakobspilger aus, um über die Grenze nach Frankreich zu gelangen. Viele flohen mit Frau und Kindern mitten in der Nacht, nachdem die Ämter ihre Bitten, sie gehen zu lassen, abgelehnt hatten. Es gab jedoch auch Fälle, in denen die Behörden die Auswanderung genehmigten, weil sie dem Land keine Steuerzahler nahm, sonden Leute, die ohnehin zur Last fielen: Vagabunden, Deserteure, Tagelöhner.

Und so gelangten auch genau diejenigen nach Spanien, deren Zahl die dortige Regierung gerade verringern wollte. Denn die neuen Siedlungen an der Grenze von Kastilien und Andalusien waren nur ein Teil eines umfassenden Reformprogramms, mit dessen Hilfe Spanien seine Wirtschaft zu beleben suchte, um die Abhängigkeit des Landes von ausländischen, vor allem englischen, Waren zu verringern. Die Herrscher wollten im Kreis der europäischen Mächte endlich wieder die Stellung einnehmen, die der gewaltigen Ausdehnung ihres Reiches samt den Kolonien entsprach.

Siedlungsprojekte für entvölkerte Landstriche gab es in etlichen Ländern schon lange. Neu war jedoch der ideologische Ansatz: Er spiegelte den absoluten Herrschaftsanspruch der Krone ebenso wie das ökonomische Denken der Aufklärung. Politisch lässt sich für die Jahre nach dem Siebenjährigen Krieg (1756 - 1763) vor allem ein großes Vorbild ausmachen: Friedrich II., dessen militärische Erfolge jenseits der Pyrenäen große Bewunderung hervorgerufen hatten.

Den spanischen Delegationen blieb in Preußen aber auch das dortige Geistesklima nicht verborgen. Die Kameralwissenschaften, die seit einigen Jahrzehnten an den preußischen Universitäten gelehrt wurden, lieferten ein alle Zweige des öffentlichen Lebens umfassendes Regelwerk für die Beamtenschaft. Oft war in den Schriften der Kameralisten vom Staat als Körper die Rede, in dem der Monarch als Haupt die Bewegungen aller Glieder zum gemeinen Besten lenkte. Dieses Bild des über den Ständen stehenden Herrschers, dessen Eingreifen in alle Bereiche des Lebens auf diese Weise legitimiert wurde, fand in den Kreisen um den reformwilligen Karl III. zahlreiche Anhänger.

Den Tatendrang des Königs hemmten freilich die Besitzverhältnisse. Gut die Hälfte Spaniens lag in den Händen von Adel und Klerus und war damit seinem direkten Zugriff entzogen. So mussten die Reformer auf eine Änderung der Mentalitäten setzen. Und hier kam das zweite große Vorbild dieser Jahre zum Tragen: England. Vor allem in der englischen Morallehre, nachzulesen etwa in Bernard Mandevilles aufsehenerregender "Bienenfabel" aus dem Jahr 1714, glaubte man den Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg gefunden zu haben: Der Eigennutz, zuvor nach der katholischen Lehre eine verwerfliche Eigenschaft, wandelte sich zu einem wichtigen Prinzip der Politik. Demnach trieb die Verfolgung des eigenen Interesses das Individuum an, zum Wohl des Ganzen beizutragen, viel mehr als Gesetze das konnten. Man musste den Menschen sichere Eigentums- oder zumindest Pachtverhältnisse bieten, wollte man sie dazu bringen, mehr zu erwirtschaften, denn nur wenn sich die Arbeit für sie lohnte, würden sie sich anstrengen.

All diese Überlegungen standen Pate bei der Gründung der Siedlungen in der Sierra Morena, einem Mittelgebirge auf halber Strecke zwischen Madrid und Málaga. Von hier aus sollte sich das Modell effizient wirtschaftender Kleinbetriebe bald in andere Teilen Spaniens verbreiten.

Die klar gegliederten Grundrisse der Dörfer boten allen die gleichen Bedingungen. Die privilegierten Stände besaßen dort keine Macht, und es war verboten, Land an sie zu veräußern, damit dies auch so bliebe. Auch durften keine Klöster gegründet werden, da Nonnen und Mönche unter den neuen Prämissen zunehmend als unproduktiv galten und damit den Zielen des Projekts nicht entsprachen. Schließlich sollten alle Kinder in Dorfschulen eine elementare Bildung erhalten.

Federführend bei der Ausarbeitung des Projekts war vor allem Pablo de Olavide aus Lima. Der peruanische Jurist lieferte nicht nur das ideologische Programm, sondern überwachte auch dessen Umsetzung. Das Unterfangen brachte für die spanische Krone hohe Kosten mit sich, zudem fürchtete man Kritik an einer derartigen Bevorzugung von Ausländern, vor allem an der versprochenen Abgabenfreiheit. Deshalb mussten unbedingt schnelle Erfolge her.

Doch gleich nach Ankunft der ersten Siedler wurden die Reformer aus ihren hehren Träumen gerissen. Die Agenten hatten, da sie pro Kopf bezahlt wurden, wenig auf die Tauglichkeit der Kolonisten geachtet. So klagten die spanischen Beamten vor Ort bald, viele der ungepflegten Erscheinungen hätten keine Ahnung von Landwirtschaft und sogar Angst vor Kühen. Man fürchtete ihren schädlichen Einfluss auf die angereisten Familien, in die man alle Hoffnungen setzte. Olavide musste sich permanent gegen den Vorwurf verteidigen, die Arbeiten gingen nicht schnell genug voran. Und offenbar gab er diesen Druck an diejenigen weiter, deren Glück doch im Vordergrund stehen sollte, nämlich an die Siedler.

Diese wiederum stellten rasch fest, dass das angeblich so fruchtbare Land in allzeit gemäßigtem Klima, das man ihnen versprochen hatte, aus steinigem Boden bestand, den ein Reisender damals als "andalusische Wüste" bezeichnete. Dem ersten harten Winter folgte ein heißer Sommer. In den notdürftig errichteten Baracken brachen Krankheiten aus, unter anderem das Vitaminmangelleiden Skorbut - ein klares Indiz der schlechten Versorgungslage.

Viele der ersten Einwanderer starben. Auf die folgenden kamen neue Herausforderungen zu: Sie bekamen es mit Übergriffen durch benachbarte Dorfbewohner zu tun, denen die Vorteile, die ihre neuen Nachbarn genossen, nicht passten. Im August 1769 zündeten einige von ihnen eine Baracke an; drei Tage später meldete man drei Brandherde gleichzeitig. Mehrere Siedler wurden zudem überfallen, misshandelt und beraubt. Immer wieder wurde Vieh gestohlen.

Etliche Kolonisten waren bald völlig verängstigt. Einige baten darum, von ihren Höfen in die Ortschaften ziehen zu dürfen, andere, dass man sie in ihre Heimat zurückkehren ließe. Doch die Krone hatte nicht so viel Geld in das Projekt investiert, um solchen Undank zu tolerieren. "Deserteuren" drohten harte Strafen. Olavide selbst berichtete von zwei Familien, die man während der Flucht aufgegriffen habe. Die Männer habe er an den Pranger gestellt und dann zu Zwangsarbeit von vier beziehungsweise acht Jahren verurteilt, während er ihre Frauen ins Armenhaus geschickt habe. Weitere Männer steckte er zur Strafe in nahe gelegene Minen.

So war man offenkundig auf beiden Seiten weit von den ursprünglichen Idealvorstellungen entfernt. Die Sorge um das Wohl der Untertanen galt anscheinend nur so lange, wie diese sich dem von der Krone definierten Wohl des Ganzen unterwarfen. Doch auch die Freiheit der Reformer bei der Umformung der Gesellschaft unterlag, zumal in Spanien, starken Beschränkungen - das zeigt sich am Schicksal Olavides.

In seinem aufklärerischen Eifer zögerte der Bevölkerungsregisseur nicht, in alle Bereiche des Siedlungslebens einzugreifen.

Seine Versuche, die französische Mode in der ländlichen Umgebung einzuführen, lösten Befremden aus. Als er aber gar die Abschaffung der traditionellen spanischen Kopfbedeckung anordnen wollte, protestierten selbst seine Mitstreiter: Sie hielten es nicht für statthaft, dass ihre Ehefrauen mit unbedecktem Haupt die Kirche besuchten.

Noch fataler wirkten sich seine Eingriffe in den religiösen Ritus aus: Schlichte Gotteshäuser ohne Heiligenbilder waren der Rahmen für Messen, in die von ihm selbst komponierte Gesänge einflossen. Auch gefiel sich Olavide darin, in einer Art privatem Salon die anwesenden Geistlichen durch unbequeme Fragen in Verlegenheit zu bringen; er piesackte sie sogar mit den radikalen Ansichten der kirchen- und religionskritischen Denker Claude Adrien Helvétius und Voltaire.

Ein deutscher Pater war es, der Olavide im Jahr 1775 wegen Ketzerei anzeigte. Er brachte damit den spektakulärsten Inquisitionsprozess des 18. Jahrhunderts in Gang, der das Bild Spaniens im Ausland für lange Zeit erheblich prägen sollte. Die Reformer gerieten in Angst und Schrecken und mäßigten sich notgedrungen, zumal der streng gläubige Karl III. das Vorgehen gegen Olavide ausdrücklich billigte. Damit beeinflussten die deutschen Siedlungen erheblich den Gang der spanischen Reformpolitik.

Letztlich warf das Projekt nie die Erträge ab, von denen die Verantwortlichen geträumt hatten. Dennoch belebten die Zuwanderer das Wirtschaftsleben der Region. Schon zu Beginn der 1770er Jahre existierte neben Ackerbau und Viehzucht ein, wenn auch bescheidenes, Textilgewerbe. Kolonisten aus anderen Teilen Spaniens zogen zu; die Bevölkerung vermischte sich. In den 1790er Jahren war es offenbar schon bemerkenswert, wenn man überhaupt noch auf jemanden traf, der etwas Deutsch sprach.

Die Sierra Morena zog viele Reisende an, die sich das seinerzeit aufsehenerregende Experiment ansehen wollten. Fast alle werteten das Unternehmen als Erfolg und bewunderten die Kulturlandschaft, die die Siedler dem steinigen Boden abgetrotzt hatten. Bis heute ist La Carolina, wie der Hauptort zu Ehren des Königs genannt wurde, ein blühendes landwirtschaftliches Zentrum, in dem noch immer einige deutsche Familiennamen an die mühevollen Gründungsjahre erinnern. ■

DER SPIEGEL 2/2017

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