Sie nennen sich Urban Explorers und erkunden vergessene Industrielandschaften auf eigene Gefahr. In Berlin bietet jetzt ein Ehemaliger ähnliche Touren legal an. Das entzweit die Szene.
Andreas will erst einmal zwei Unterschriften. Eine für den Haftungsverzicht und eine dafür, dass keiner die Fotos verkauft, die heute entstehen. Dann verteilt er einen Lageplan: Pökelkeller, Enteisungsanlage, Kegelbahn. Das ist übrig von der Fleischfabrik der Konsumgenossenschaft Berlin, die seit mehr als zehn Jahren mitten im Stadtteil Lichtenberg auseinanderbröckelt, nur eine Straßenbreite von der gläsernen Moderne eines Autohauses entfernt. Eine Frau mit Absatzstiefeln und einer blauen Puma-Tasche studiert das Blatt. Sie und 20 andere sind gekommen, um dem Charme des Verfalls nachzuspüren.
Die Tour beginnt am Ende der Verarbeitungskette, die damals aus kompletten Schweinen Lebensmittel machte. Auf dem Boden der Halle liegt Putz, in der Mitte gammeln Brühpfannen, in denen früher die Würste schwammen. "Das hier ist urbexen pur", ruft Andreas. Aus seinem Mund kommen Atemwölkchen, die klammen Mauern der Fabrik haben die Winterkälte gespeichert. Vielleicht steckt seine Begeisterung deshalb noch nicht jeden an. Vielleicht verstehen die meisten auch einfach nicht, was er mit "urbexen" meint.
Andreas Böttger ist Chef der Eventagentur go2know, Slogan: "Geheime Orte entdecken". Seine Fototouren in verlassene Gebäude sind so gut wie immer ausgebucht. Neben der Fleischfabrik schließt er seinen Kunden eine alte Papiermühle im Berliner Umland oder das einstige Sanatorium am Grabowsee bei Oranienburg auf. Bald will er den stillgelegten Flughafen Tempelhof in sein Angebot aufnehmen.
Das Geschäft beruht auf einem Wunsch, den viele hegen: einmal erfahren, was hinter der rostigen Werkstür wartet, an der man sonst nur vorbeigeht. Hören, wie sie in den Angeln quietscht, um dann, mitten im Vertrauten, Neuland zu betreten. Die Leute, sagt Andreas, suchten nach der Einsamkeit und dem, was normalerweise verborgen bleibe. Bei ihm können sie das für 30 Euro kaufen.
Er saust seiner Gruppe durch die Fabrikhallen voran und rattert die Fakten herunter: "1909 sind die ersten Gebäude gebaut worden, 1993 ist der Betrieb pleitegegangen und ausgeschlachtet worden." Von der vierstündigen Tour entfällt auf die Führung nur eine halbe Stunde. Danach kann sich jeder frei bewegen und Fotos machen.
Andreas freut sich an jedem Detail, "geil" ist sein Lieblingswort. Er hebt ein verdrecktes Etikett auf. "Gutsleberwurst 2,50 Mark". Mit seinem Fuß schiebt er einen Aluminiumlöffel am Boden herum. "Wer aus der DDR kommt, kennt den noch." Er blättert in einem grünen Papphefter. "Guck mal, so zerteilt man ein Schwein." Die Gruppe steht jetzt in der Räucherei. Ein zusammengeklumpter Handschuh liegt vor einem der rußschwarzen Öfen, in denen es immer noch beißend riecht. Nach Rauch vielleicht nur, vielleicht aber auch noch nach Fleisch. Das, sagt Andreas, sei der Deal mit den Besitzern gewesen: "Wir kommen nur, solange alles unverändert bleibt." Zu seinem Part im Deal gehört, dass er leer stehende Gebäude wie dieses bekannt macht. Die meisten Eigentümer, mit denen er zusammenarbeitet, wären froh über einen Käufer oder wenigstens jemanden, der eine Party feiern will.
Die Orte stehen garantiert nicht im Reiseführer
Eine schlaue Geschäftsidee. Aber verkauft Andreas auch das, wovon er spricht: geheime Orte, »urbexen pur«? Urban Exploration ist der Begriff für eine touristische Subkultur, die in westlichen Großstädten seit der Jahrtausendwende immer mehr Zulauf findet. Oft geht es dabei wirklich in den Untergrund: in Katakomben, Bunker oder verlassene U-Bahn-Schächte. An Orte jedenfalls, die garantiert nicht im Reiseführer stehen, schon darum, weil offiziell kein Weg hineinführt. Also sucht man sich selber einen, erkundet die vergessenen Seiten einer Stadt und bringt Fotos davon als Trophäen mit.
Sonntagmorgen im Industriepark einer brandenburgischen Kleinstadt. Wo genau, bleibt diesmal wirklich geheim; diese Bedingung hat der Urban Explorer Thomas gestellt. Er steht zwischen ein paar Neubauten und vielen Ruinen, deren verbliebene Fensterscheiben von innen angelaufen sind. Einstweilen beschäftigt ihn allerdings nur seinSmartphone. Er zoomt in Satellitenbilder des Geländes. Was er sucht, ist ein Labor. In einem Urbex-Forum hat er ein Bild davon gesehen. Die Belegschaft muss dort alles stehen und liegen gelassen haben: Reagenzgläser, Destilliergeräte, Zentrifugen. Der Ort ist authentisch, ein gutes Motiv – und noch ein Geheimtipp in der Szene. Wo man ihn findet, stand im Forum natürlich nicht.
Schon zu Hause hat Thomas das Internet stundenlang nach Hinweisen durchkämmt. Irgendwann stieß er auf ein Foto von einem alten Bauplan, da stand der Name des Ortes drauf und wie das Chemiewerk damals hieß. Das hat ihn bis hierher geführt, nach drei Stunden Autofahrt mit einem Freund und drei Bekannten aus der Szene. Dass sie das Labor noch immer suchen, passt allerdings nicht in Thomas’ Plan. Er bleibt an einem Haus stehen, das zwischen den Industriekolossen kauert. Auf der Treppe davor hat er zwei Rundkolben entdeckt. Thomas rüttelt an der Kellertür, doch die öffnet sich nicht. Er versucht, mit einem Multitool eine Schraube zu lösen, die durch das rot lackierte Holz der Tür getrieben wurde. Vergeblich. Eilig folgt er den anderen, die schon um das Haus herumgegangen sind.
Thomas ist seit vier Jahren Urban Explorer. Von Andreas unterscheidet ihn, dass er niemanden um Erlaubnis fragt. Hausfriedensbruch gehört dazu. Als er das erste Mal unterwegs war, hat er eine alte Weizenmühle fotografiert. Ein Einsteigermotiv, sagt er. Inzwischen sind die Orte spannender geworden, größer, schützenswerter. Wenn ihn jemand danach fragt, den er nicht kennt, verrät er sie nicht. Je mehr Leute ein Foto haben, desto weniger ist sein eigenes wert. Später, nach einer hastig heruntergeschlungenen Banane, wird er sogar seinem Freund gegenüber geizig sein, wenn der für sein Navigationsgerät nach den Koordinaten des nächsten Ziels fragt. Thomas wird sie für sich behalten und ihn lieber selbst navigieren, mit seinem Smartphone und dem aufgeregt deutenden Arm.
An der Rückseite des Hauses steht ein Fenster offen. Zwanzig Zentimeter über Thomas‘ Kopf zwar, aber zum Hochstemmen nah genug, auch wenn an Hose, Jacke und Rucksack hinterher Putzabrieb klebt. Drinnen riecht es nach altem Staub. Chemikalien stehen offen herum. Ein paar der braunen Fläschchen liegen zerschlagen am Boden, um sie herum haben sich Lachen gebildet. Unmöglich zu sagen, ob sie giftig, ätzend oder brennbar sind. Die Männer machen Zigarettenpause.
In der Berliner Fleischfabrik gibt es Mischgebäck und Kaffee aus der Thermoskanne. Überall dort, wo es dunkel ist und jemand stolpern könnte, hat Andreas elektrische Teelichter aufgestellt. Er läuft herum und fragt, ob alles okay sei. »Achtung, hier ist ein Loch!«, ruft er einem Teilnehmer zu. Früher war auch Andreas ohne Genehmigung unterwegs. Jetzt macht er Orte öffentlich, die Leute wie Thomas lieber weiter im Verborgenen wüssten. Manche Urban Explorers nehmen ihm das übel. »So etwas ist schon viel zu sehr Mainstream«, sagt einer. »Unser Hobby sollte unter dem Radar laufen.«
Alleinherrscher im Reich der vergessenen Orte
Andreas sieht sich nicht als Verräter. Ihn belustigt es, dass manche in der Szene immer noch vom »Sanatorium G.« raunen, wenn sie das am Grabowsee meinen – »dabei kennt das doch wirklich jeder«. Was soll denn falsch daran sein, zahlenden Kunden Urban Exploration als Light-Version anzubieten?Ein junges Paar sucht die Kegelbahn. Zwei Monate hat Andreas damals gebraucht, in den weit verzweigten Hallen der Fleischfabrik einen Zugang zu ihr zu finden. Mit dem Schlüssel geht es leichter. Für seine Gruppe hat er die Kegel angeleuchtet, die ein wenig schief an ihren Kordeln hängen.
Anne ist neu in Berlin und hat David die Tour geschenkt. David ist Hobbyfotograf. »Es gibt viele spannende Motive«, sagt er. Mal etwas anderes als die Bäume und Wiesen, die er sonst fotografiert. Echte Urban Exploration wäre nicht sein Ding. »Ich will mich nicht andauernd umdrehen müssen und gucken, ob ein Wachmann kommt.« David sucht nicht nach einem Kick.