David Torcasso

Journalist/Editor, Berlin/Zürich

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Die neue Masche

- Staunend halten Benjamin Moser und Debora Biffi den langen Wollschal in den Händen, betrachten ihn genau und fahren mit den Fingern über das Zopfmuster. "Die doppelten Maschen finde ich genial", sagt Biffi. Elisa Ballerini rückt ihr Hörgerät zurecht. Die 90-jährige Rentnerin lächelt verlegen.

Moser, 27, und Biffi, 30, passen mit ihren engen Jeans, den modischen Shirts und den Stiefeletten so gar nicht zu den vergilbten Bildern und Porzellantassen in dem kleinen Zimmer im Altenheim Limmat. Sie haben ihre Firma Senior Design Factory genannt, in Anspielung auf Andy Warhols Factory. Nur dass in ihrer Firma nicht Kunst und Kommerz zusammenkommen, sondern Alt und Jung.

Angefangen hat alles im Jahr 2008. Da besuchten die beiden Studenten Moser und Biffi für ihre Diplomarbeit im Fach "Style & Design" an der Zürcher Hochschule der Künste 27 Altenheime und kreierten mit Senioren Strickwaren. Ihre Kommilitonen staunten, als grauhaarige Damen im Rollstuhl bei der Prüfungs-Vernissage auftauchten. "Die Freude der alten Menschen, ihre Schals und Kappen dort ausgestellt zu sehen, hat uns auf die Idee gebracht", erzählt Moser.

Inzwischen ist aus der Idee ein Unternehmen entstanden. Die Senior Design Factory schafft mit alten Leuten neue Produkte. Kochbücher mit Rezepten der Großmutter und der modernen Grafik eines jungen Gestalters; modisch geschnittene T-Shirts mit von Senioren gestalteten Prints; Strickwaren mit raffinierten Maschen und Zopfmustern, um die sie Kunden trendiger Textilläden beneiden würden.

Sie haben eine Brücke zwischen den Generationen gebaut. "Design ist der ideale gemeinsame Nenner", sagt Moser. Junge Kunden schätzen die authentische Handarbeit, die Alten freuen sich über eine sinnvolle Beschäftigung.

"Wir lassen die Senioren aber nicht einfach produzieren, sondern entwerfen gemeinsam mit ihnen neue Produkte", sagt Moser. Dabei sei eine erfahrene Person, die seit 60 Jahren strickt, der beste Ideengeber. "Wir sind keine Pfleger, sondern Auftraggeber", ergänzt Biffi. Es gehe ihnen vor allem um die Gestaltung. Dabei seien die Alten für sie gleichwertige Partner. Manchmal brüten sie mit ihnen stundenlang über Produktideen und Designvorschlägen.

In der kommenden Woche wird es einen Strick-Workshop mit zwölf Teilnehmern geben - sieben davon sind unter 30 Jahre alt. Geleitet wird er von Elisa Ballerini, der alten Dame mit der doppelten Masche.

In Deutschland leben rund 20 Millionen Rentner, in der Schweiz sind es rund 1,3 Millionen. Bis 2025 wird sich die Zahl der Ruheständler in Europa verdoppeln. Viele von ihnen leben in Altenheimen -und langweilen sich oft. "Bei uns können die Senioren ihre Ideen einbringen. Es gibt einen Shop, in dem die Produkte täglich von Dutzenden Kunden bestellt werden", sagt Biffi. Die aktuelle Kollektion ist bereits ausverkauft. "Das Schöne ist, dass ein Teil der Kunden jung und modebewusst ist", sagt Moser. Sie suchten einen individuellen Schal und zahlten dafür auch 60 oder 100 Euro - besonders jetzt, da Over-size-Schals wieder gefragt sind.

Die Zuarbeiter der Factory können wählen, ob sie ihren Anteil ausbezahlt haben wollen oder ihn an den gemeinnützigen Verein spenden. "Die meisten möchten kein Geld, auch wenn wir es immer wieder anbieten, sondern unterstützen unsere Projekte", sagt Biffi.

Hedwig Klug, die mit ihrem demenzkranken Mann im Altenheim Klus Park in Zürich lebt und regelmäßig für die Factory arbeitet, winkt ab: "Was soll ich mit dem Geld? Die Jungen bauen etwas auf, das noch da ist, wenn ich nicht mehr auf der Erde bin." Der Gewinn aller Produkte fließt in den gemeinnützigen Verein, um neue Ware zu kaufen oder den weiteren Aufbau des Projektes zu finanzieren. Biffi und Moser zahlen sich einen bescheidenen Lohn aus.

Im Frühling ziehen die beiden mit ihrer Firma in das Zürcher Trendquartier Langstraße zwischen Architekturbüros, Musikclubs und Grafikstudios. In gleich zwei Liegenschaften an einer Straße entsteht ein Atelier, in dem die Senioren zusammen mit jungen Designern arbeiten. Außerdem soll es einen Laden geben und ein kleines Restaurant. Gekocht und serviert wird von jungen und alten Servicekräften. "Auf der Speisekarte soll eine Kombination aus traditionellen und modernen Rezepten angeboten werden", sagt Benjamin Moser.

Es geht nicht um Beschäftigungstherapie, sondern um neue Entwürfe mit alten Techniken - eine Arbeit, für die von Kunden gezahlt wird

Im Geschäftsplan ist vorgesehen, dass sich der Betrieb nach einer dreijährigen Startphase vom vierten Jahr an selbst tragen wird - zurzeit erhält er noch von acht Stiftungen und den Altenheimen der Stadt Zürich Zuschüsse. Das sozial-ökonomische Projekt stieß auf großes Interesse, als Biffi und Moser es im vergangenen Jahr vorstellten. Inzwischen arbeiten mehr als 40 Senioren im Alter zwischen 75 und 92 Jahren für die Factory. "Ich habe nun 20 Großmütter und kann stricken", sagt Benjamin Moser und lacht. -

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