MOPO: Frau Zervakis, leiden „Tagesschau"-Sprecher insgeheim unter Minderwertigkeitskomplexen? Linda Zervakis: Wie meinen Sie das?
Kollegen wie Judith Rakers oder Jens Riewa sind sehr präsent in der Boulevard-Szene. Man hat das Gefühl, dass Sie und Ihre Kollegen zeigen wollen: Wir können auch noch was anderes außer Nachrichten vorlesen. Ich bin total glücklich mit meinem Job bei der „Tagesschau" und empfinde das immer noch als Champions-League. Aber meine Rolle vor der Kamera lässt nicht viel Spielraum zu. Das mit dem Buch kam so: Ich war in einer Sendung von „Radio Eins" und erzählte ein paar Anekdoten vom Kiosk, den meine Eltern früher hatten. Später rief mich die Lektorin vom Rowohlt-Verlag an und fragte: Frau Zervakis, können Sie bitte ein Buch darüber schreiben? Und dann ist eine Art Revue-Tagebuch daraus geworden.
Ihre Geschichte ist eine nostalgische Reise zurück in die 80er Jahre. Das war einfach eine sehr prägende Zeit für mich. Und bei den Lesungen merke ich, dass bei den Leuten, die jene Zeit auch erlebt haben, ganz leicht der Funke überspringt. Wenn es um bestimmte TV-Serien, Klamottenmarken oder Eissorten geht, dann denken die: Ja, genau so war das! Das ist einfach ein schönes Gefühl, wenn man sich gemeinsam erinnert.
Sie schreiben über die Arbeit im Kiosk: „Wir fühlten uns wie im Backstage-Bereich der deutschen Gesellschaft." Wie meinen Sie das? Ein Kiosk ist Anlaufpunkt und Herzstück für ganz viele Menschen: Man wird quasi zu einem Teil der Familien, die da ein- und ausgehen. Die Leute vertrauen einem sehr viele persönliche Sachen an. Und wir hatten die Möglichkeit, in sehr viele unterschiedliche Leben hineinzuschauen. Egal ob das der reiche Akademiker war oder der Arbeitslose. Und irgendwann wirst du Teil dieser ganzen Umgebung.
Ihr Vater verließ damals vor 6 Uhr das Haus und hatte um 21 Uhr Feierabend. Wie war das für die Familie? Ich habe ihn tagsüber selten gesehen, eigentlich nur dann, wenn wir bei den Einkäufen mit anpacken mussten. Wir haben uns eher als „Familienbetrieb" gesehen. Der Kiosk war das Gerüst unserer Familie, und unser Zusammenhalt war extrem wichtig.
Ihr Vater ist gestorben, als Sie noch Teenager waren. Danach stemmten Sie gemeinsam weiterhin den Kiosk. Das war hart. Ich habe meine Mutter um 6 Uhr zum Kiosk gefahren, danach ging es zum Großmarkt, und um 9 Uhr bin ich zur Arbeit gefahren. Und jeden Sonntag stand ich mit meinen Brüdern selber im Laden. Natürlich fand ich das auch mal doof, aber ich konnte meine Mutter nicht im Stich lassen, auch nicht dann, als ich zum Studieren eigentlich nach Berlin wollte. Es hätte mir das Herz gebrochen.
Bekommen Sie nostalgische Gefühle, wenn Sie heute einen Kiosk betreten? Natürlich. Oft stehe ich da und denke: Mensch, das Regal müsste mal dringend aufgefüllt werden. Oder wenn ich da manchmal in die Schnaps-Auslage gucke: Auweia, Hardenberg-Korn, Springer-Urvater - das haben manche Kunden zum Frühstück getrunken!
Sie sind seit drei Jahren eine Person des öffentlichen Lebens. Was sind die guten und die schlechten Seiten daran? Damals schrieb die MOPO: „Vom Ghetto in die ,Tagesschau'". Das fand ich echt unter aller Kanone. Ansonsten geht mein Leben ganz normal weiter, und ich kann ganz entspannt auf die Straße gehen. Die Leute sind immer ganz freundlich zu mir.
Fabrik:Mittwoch (30.3.), 20 Uhr, Barnerstr. 36, 14 Euro, Tel. 39 10 70