Essen. Wenn das Berufsleben erst einmal vorbei ist, spüren viele plötzlich die große Leere im Leben. Dabei kann älteren Menschen mit Depressionen leicht geholfen werden. Wir sagen, wie.
Horst Schröter* liegt auf dem Sofa - eingerollt wie ein Fötus. Sein Blick leer, lethargisch. Starr fixiert er einen Punkt im Raum. Die Gedanken indes gehen nach Innen, tief in das kranke Seelenleben hinein. Die braune Couch im Wohnzimmer ist in dieser Szenerie mehr als bloße Requisite. Sie ist für den 68-Jährigen die letzte Zuflucht vor einem Leben, das er nicht mehr für lebenswert hält. Mit dem Ruhestand kam die Depression. Seitdem verbringt der Essener die Tage auf dem Sofa.
Der Ruhestand sollte für Menschen der goldene Herbst ihres Lebens sein. Eine Zeit, in der sie all die Dinge tun können, zu denen sie zwischen Beruf und Familie nicht gekommen sind. Allzu oft färbt sich dieser goldene Lebensabschnitt aber in tristes Grau. Das Gefühl einer bodenlosen Leere im Leben: Depression. Dabei sind die Symptome alles andere als unheilbar. Betroffene finden durch Therapien Lösungen. Hilfe anzunehmen und anfangen, den Alltag aktiv zu gestalten, beugt vor und stärkt die Seele.
Etwa zwölf Prozent der älteren Menschen in Deutschland leiden unter Depressionen. Sie sind nach Demenz die häufigste psychische Erkrankung bei Senioren. Allerdings merkt das Robert-Koch-Institut an, dass „depressive Störungen im höheren Alter (bei über 65-Jährigen) als unzureichend untersucht" gelten.
Das Ende einer Lebensphase, in der die Arbeit die Aufgabe war, verkraften nicht alle. „Der Beruf hat für viele Menschen eine stabilisierende und soziale Funktion", erklärt Dr. Ute Fiedler vom LVR-Klinikum Essen. Sie leitet die gerontopsychiatrische Tagesklinik. Die Situation, dass ältere Menschen „zuhause in eine ganz neue Rolle rutschen", kennt sie von ihren Patienten.
Worüber Loriot noch scherzteWas in dem Loriot-Film „Pappa ante Portas" in urkomischen Szenen geschildert wird, kann durchaus ernste Folgen haben. Heinrich Lohse (Loriot), ehemaliger Einkaufsdirektor bei der Deutschen Röhren AG, engagiert sich nur schwer mit dem Rentnerdasein. Seine ungeschickten Versuche, im Haushalt zu helfen, um die neue Leere zu füllen, führen stetig zu Konflikten mit seiner Frau, der Haushälterin und der Nachbarschaft. „Mein Name ist Lohse und ich kaufe hier ein", verkündet Loriot, als er den Gemischtwarenladen betritt, um kurzerhand mit der Verkäuferin aneinander zu geraten.
Im Film gibt es ein Happyend, aber für viele Rentner nicht. Diese Menschen finden sich nicht mehr zurecht in einer Welt, die ihre Arbeitskraft nicht mehr braucht. Sie können den schwindenden gesellschaftlichen Einfluss und den Verlust der Verantwortung nicht akzeptieren. Das Selbstwertgefühl schrumpft, die düsteren Gedanken nehmen zu. Auch bei Frauen, die ihr Leben lang Mutter und Hausfrau waren, tritt diese Sinnkrise auf - sobald die Kinder aus dem Haus sind.
Deswegen sagt Dr. Petra Dlugosch, Chefärztin der Gerontopsychiatrie im LWL-Klinikum in Dortmund: „Wer es nicht schafft, seine Wertvorstellungen zu verändern, wird Probleme bekommen." Gerade in der modernen Leistungsgesellschaft sei es für viele schwer zu ertragen, wenn die Leistungskurve abflacht. Das Risiko, an einer Depression zu erkranken, steigt zudem bei jenen, die chronisch krank sind, finanzielle Probleme haben oder ihren Lebenspartner verlieren.
Auch die Lebensverhältnisse Älterer verändern sich auf diese Weise. Knapp zwei Drittel der über 65-Jährigen leben alleine - was sie nach Meinung von Experten anfälliger für Depressionen macht.
Gefahr von LebensmüdigkeitSo werden auch rund 50 Prozent aller Suizide in Deutschland von Männern über 60 Jahren begangen. Bei Frauen ist jede Zweite, die sich das Leben nimmt, älter als 60. Die Suizidversuche sind bei Frauen zudem weitaus höher als bei Männern.
Der Prozess ist schleichend. „Oft gibt es die Meinung, dass es im Alter in Ordnung ist, wenn man nur auf dem Sofa sitzt", sagt Ute Fiedler, „aber das macht auf Dauer depressiv." Träge in den Tag hinein zu leben, ist der Beginn. Ihren Patienten versucht die Psychologin zu vermitteln, wie sie ihr Leben wieder selbst gestalten können. Sie spricht von „Tagesstruktur", die der Nährboden einer gesunden Seele ist.
Auch Horst Schröter litt nicht vom ersten Tag seines Rentnerdaseins an Depressionen. Der 68-Jährige hatte vor fünf Jahren, als er in Frührente ging, noch viel vor. Mit seiner Frau wollte er reisen. „Einmal um Welt", sagt er wehmütig.
Jahre geschuftet, dann nur noch aufs SofaDie Pläne schob er auf - bis heute. Abgehoben aus der Monotonie ist er nie. Jahre hat er geschuftet und Überstunden geschoben, um seine Familie zu ernähren und das kleine Haus in Essen abzubezahlen. Er arbeitete als Abteilungsleiter in der Verwaltung eines Stahlunternehmens. Das war sein Antrieb. Den Job verlor er, als seine Firma verkauft wurde und die neuen Besitzer kurzerhand seine Abteilung auflösten. Unfreiwillig ging er in den Vorruhestand.
Als er sich dann zum ersten Mal auf das braune Sofa fallen ließ, um dem Nichtstun zu frönen, nahm ihn die Lethargie in die Mangel. Die Idee zu reisen, fand er plötzlich unnütz. So wie sich selbst.
Die Depressionen kommen in SchübenEr leidet unter starken Depressionen. Sie kommen in Schüben. Von Zeit zu Zeit befallen ihn Panikattacken. Aber noch schlimmer als die Angststörung ist die Angst vor der Angst. Vor die Tür gehen, käme für ihn nicht in Frage, gäbe es nicht seine Frau Marianne. Sie drängt ihren Ehemann zu einem Mindestmaß an Aktivität.
Drei Mal die Woche geht sie mit ihrem Mann spazieren. Er soll wieder lernen, die Zeit sinnvoll zu nutzen. In kleinen Schritten. „Es ist schwer, ihn überhaupt dazu zu motivieren", klagt seine Frau Marianne Schröter. Aber wenn er seine dunklen Schuhe angezogen, den schwarzen Mantel übergestreift und den grauen Hut aufgesetzt hat, geht es. Das Paar läuft die Straße entlang. Links und rechts kahle Bäume.
Die Schritte, die er macht sind klein. Es ist nicht der Gang eines Mannes, der mit sich selbst zufrieden ist. Aber mit jedem Schritt scheint sich auch die innere Anspannung zu lösen. „Ich bemerke ja selbst, dass es mir gut tut, wenn ich mal rauskomme", sagt Horst Schröter beiläufig. Zwingen muss ihn seine Frau dennoch. Wie lange ihr Mann noch gegen sich selbst und seine Antriebslosigkeit ankämpfen muss, wissen sie beide nicht.
Zwingen braucht die Mitglieder des Vereins „Zwischen Arbeit und Ruhestand" (ZWAR) in Gelsenkirchen-Horst niemand. Die Gruppe, größtenteils Senioren, trifft sich seit zwei Jahren. Sie haben sich zusammengefunden, um nicht alleine zu sein. Sie wollen „mehr als nur eine Kuhle im Sofa hinterlassen", heißt es in einer Broschüre des sozialen Netzwerks.
Kichern wie die SchulkinderLachen schallt aus dem Saal im evangelischen Gemeindehaus. Die Runde hört sich einen Vortrag zur Sexualität im Alter an. Sie kichern wie Schulkinder, als ein Herr die Anekdote erzählt, wie er zum ersten Mal ein Kondom in der Hand hielt. „Wir haben sie mit Wasser gefüllt und vom Balkon fallen lassen", tönt es aus ihm hervor. „Zehn Liter Wasser passten da rein."
Auch Bärbel Hegemann sitzt mit am Tisch. Die 56-Jährige arbeitet noch bei der Stadtverwaltung, aber als vor sieben Jahren ihr Mann verstarb, war für sie klar: „Ich wollte nicht alleine sein." So rief sie mit den anderen die ZWAR-Gruppe ins Leben. Unterstützt hat die Gruppe dabei die Zentralstelle des Netzwerks in Dortmund und die Stadt. Sie treffen sich, um Wandern zu gehen, Fahrrad zu fahren oder gemeinsam Brettspiele auszuprobieren. Jeder nach seinen Interessen.
Über 150 solcher Gruppen existieren mittlerweile in Nordrhein-Westfalen. In der ersten Gruppe, die vor 30 Jahren gegründet wurde, fanden sich die Pensionäre des Hoesch-Werks in Dortmund zusammen. Sie wollten auch im Ruhestand die alten Kollegen nicht missen.
Die Seele in Balance haltenDas Prinzip ist seitdem dasselbe geblieben. Ein Prinzip, das hilft, auch im Alter die Seele in der Balance zu halten.
Die Gesellschaft wird immer älter. Der Anteil der 65-Jährigen und über 80-Jährigen an der Gesamtbevölkerung wird laut Statistischem Bundesamt von 20 Prozent (2008) auf 34 Prozent (2060) anwachsen. Und der Großteil der älteren Menschen sieht den Ruhestand auch als Chance an. Sie arbeiten ehrenamtlich in Vereinen und Verbänden, besuchen VHS-Kurse oder gehen ihren Hobbys nach. Zuvor muss man nur die Frage beantworten können, wie man die Weichen dafür stellt.
So liegen die Ursachen für depressive Episoden bei Rentnern indes meist sogar tiefer. Der Ruhestand ist die Zeit, in der sie wieder zutage treten.
„Bei fast allen meiner Patienten habe ich etwas gefunden, dass die Krankheit erklärt", sagt Dr. Petra Dlugosch. Es sind unbewusste Erinnerungen an eine Kindheit, in der man sich nicht geliebt fühlte oder traumatisierende Erlebnisse durch Krieg und Gewalt. Die Menschen tragen sie über Jahre hinweg mit sich herum.
Die Suche nach der Quelle der DepressionSie schwelen wie ein Feuer unter der Oberfläche. Der Beruf oder die Kinder hielten es im Zaum. Aufgaben, Pflichten, die wenig Raum ließen, um über die eigenen Ängste und Nöte nachzudenken und sie zu reflektieren. „Diese Menschen zerbrechen dann, weil sie in der Vergangenheit nie gelernt haben, damit umzugehen", sagt Petra Dlugosch.
Bei Horst Schröter begann die Suche nach der Quelle seiner Depression auch in der Kindheit. Aber bis es soweit war, brachten er und seine Familie einen langen Weg hinter sich. Nur bei den wenigsten Menschen wird eine psychische Erkrankung zum ersten Mal im Alter diagnostiziert. Aber die Zahl die Erstdiagnosen nimmt zu.
Psychische Probleme waren Horst Schröter während seines Arbeitslebens unbekannt. Umso schwerer fiel es ihm, sich seine Krankheit als Rentner einzugestehen. „Ständig stritt ich mich mit meiner Frau, weil sie unbedingt wollte, dass ich mehr unternehme", sagt er. Verstehen, dass er unter Depressionen litt, konnte sie damals nicht. Lange zog sie es nicht mal in Erwägung: „Mein Mann hat ja auch nicht darüber geredet, wie es in ihm aussah." Sie besucht inzwischen eine Selbsthilfegruppe für Angehörige.
An den schlimmen Tagen behielt er den Pyjama anEr stand morgens auf, ging ins Bad und verzog sich aufs Sofa. An den ganz schlimmen Tagen, behielt er den Pyjama an.
„Menschen in diesem Alter sprechen häufig nicht über ihre Gefühle", so Ute Fiedler. Sie spricht von „großen Hemmschwellen", die die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen haben, wenn es um psychische Erkrankungen geht. So suchen laut dem Deutschen Zentrum für Altersfragen auch 69 Prozent der Patienten ihren Hausarzt lediglich auf, um die körperlichen Beschwerden einer Depression wie Erschöpfung, Kopfschmerzen oder Magenbeschwerden behandeln zu lassen. Altersdepressionen werden so zum Risiko für die körperliche Gesundheit. Die Wahrscheinlichkeit unter anderem von Herzinfarkten oder Schlaganfällen steigt.
„Solche Sachen macht man mit sich selber aus", glaubte auch Horst Schröter lange. Erst seit einem Jahr geht er zwei Mal die Woche zur Psychotherapie und bekommt Medikamente gegen seine Depressionen. Dort sprach er zum ersten Mal über sein schwieriges Verhältnis zu Mutter und Vater. Als mittleres von drei Kindern fühlte er sich oft ungeliebt. „Manchmal war es so, als ob ich nur da war, um auf meinen kleinen Bruder aufzupassen", erzählt er. Ein verbreitetes Stereotyp.
Endlich mal über alles sprechenAuch Schläge setzte es, wenn er mal etwas falsch machte. „Die schlimmsten Prügel habe ich bekommen, als mein Bruder mal ausgebüxt ist." Besser aufpassen hätte er sollen, warf ihm seine Mutter vor. Die Schläge hagelte es vom Vater. Als das Nesthäkchen nach zwei Stunden zurück war, reagierten die Eltern erleichtert. Horst Schröters Bruder bekam damals nicht einmal eine Standpauke.
„Die Situation habe ich lange verdrängt", sagt er. Erst während der Therapie sei sie ihm wieder in Erinnerung gekommen. Weinend habe er die Praxis verlassen. Glücklich darüber, dass seine Frau auf ihn wartete. „Danach hat er endlich auch einmal mit mir über alles gesprochen", sagt Marianne Schröter.
Es war Glück, dass die Schröters recht schnell einen Therapieplatz gefunden haben. Die Krankenkassen bewilligen Therapien zwar ohne Murren, aber geeignete Therapeuten sind rar. Sich an eine gerontopsychiatrische Einrichtung zu wenden, ist für viele keine Option. Sie verbinden die Kliniken eher mit Demenz und Alzheimer, aber nicht mit Depressionen.
„Wenn ich erst mein Leben wieder habe"Auch generell kritisieren viele Psychologen, dass den psychischen Erkrankungen in der Altersmedizin (Geriatrie) nur wenig Beachtung geschenkt wird. So gehen einige Studien auch davon aus, dass ein Großteil der Bewohner in Altersheimen von Depressionen betroffen ist. Die Diagnose in diesen Fällen lautet allzu oft Demenz. Die Depression wird nicht bemerkt.
Soweit ist es bei Horst Schröter noch nicht. Allmählich schafft er es, seine Depression zu überwinden. Die Heilungschancen stehen gut. Was bleiben wird, ist ein hohes Rückfallrisiko. „Damit komme ich zurecht, wenn ich erst mein Leben wieder habe", sagt er mit einem zaghaften Lächeln auf dem Gesicht.
In der linken Hand hält er zwei Pillen, in der rechten ein Glas Wasser. Ein großer Schluck und die Antidepressiva sind heruntergespült. Er hat seiner Frau versprochen, mit ihr in der Essener Innenstadt einkaufen zu gehen. Und er sagt: „Ich fühle mich seit langem mal wohl bei dem Gedanken, das Haus zu verlassen."
*Name geändert
Depressiv im Alter? Hier finden Sie Hilfe Hilfe für Betroffene bieten die gerontopsychiatrischen Einrichtungen des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) oder des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL). Kontakt zum ZWAR-Netzwerk kann man unter 0231/9613170 oder auf www.zwar.org aufnehmen. Dort findet sich auch eine Liste mit den Städten, in denen lokale Netzwerke gegründet wurden. Zudem existieren in den meisten Städten Begegnungs- und Beratungszentren sowie Seniorentreffs. Nähere Informationen gibt es auf den Internetseiten der jeweiligen Städte.David Huth