»Ein Boom der Linken ist kurzfristig nicht absehbar«
Mauricio Archila über das Friedensabkommen von Havanna, die Perspektiven der Guerilla als Partei und die Gewalt der extremen Rechten
Die Freude in Kolumbien ist angesichts des erfolgreichen Endes der Friedensgespräche groß. Teilen Sie diesen Enthusiasmus?
In gemäßigter Form ja. Ich teile nicht die Ansicht, dass sich Kolumbien
nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages am 26. September in ein
Land aus Milch und Honig verwandeln wird. Aber die Wiedereingliederung
der größten Guerillagruppe ist ohne Zweifel das wichtigste Ereignis nach
fast 70 Jahren der Gewalt. Zwar sind die in Havanna getroffenen
Vereinbarungen sicher nicht das Nonplusultra, aber sie können viele
wichtige gesellschaftliche Prozesse anstoßen und jene Aspekte
beseitigen, die ursächlich für die politische Gewalt waren. Besonders
die soziale Ungleichheit und der Ausschluss vieler Bevölkerungsteile von
politischen Entscheidungsprozessen.
Mauricio Archila
Der
Sozialhistoriker Mauricio Archila forscht zur Geschichte der
kolumbianischen Linken und leitet den Bereich »Soziale Bewegungen« am
Forschungs- und Bildungsinstitut CINEP in Bogotá. Mit Archila sprach für
»nd« David Graaff über die Chancen und Risiken, die sich für die Linke
aus dem Friedensprozess ergeben. Foto: privat
Welche Chancen ergeben sich dank des Friedensprozesses für die sozialen Bewegungen im Land?
Die Leute in den unterschiedlichen sozialen Bewegungen haben seit Jahren
verschiedene Forderungen gestellt, beispielsweise was staatliche
Unterstützung oder die Mitbestimmung darüber betrifft, was in ihren
Territorien wirtschaftlich geschehen soll und was nicht. Durch den
Friedensprozess kann mittelfristig ein Klima für Veränderungen
geschaffen werden, bei dem die sozialen Organisationen mittels
Mobilisierungen und Initiativen von der lokalen bis zur nationalen Ebene
eine Neugestaltung des institutionellen Gefüges erreichen, um den
Frieden nach ihren Vorstellungen gestalten zu können.
Die Existenz einer bewaffneten Organisation galt als Hemmnis für
die gesamte Linke Kolumbiens. Wird sie jetzt eine gewichtigere Rolle in
der kolumbianischen Politik spielen?
Ein Boom der Linken beispielsweise in Form einer »Frente Amplio« wie in
Uruguay ist kurzfristig nicht absehbar. Denn einerseits ist die Rechte
immer noch stark und einflussreich. Andererseits gibt es innerhalb der
Linken eine ganze Reihe von Vermächtnissen, die sich nicht von heute auf
morgen überwinden lassen: Die Spaltung in einzelne Strömungen und
Fraktionen, den »Caudillismo« (der Anführer bestimmt, d. Red.),
ideologische Differenzen. Momentan sehe ich noch nicht die
charismatische Führungsfigur, die die verschiedenen Flügel hinter sich
vereinen könnte.
Und langfristig?
Das hängt unter anderem von der Entwicklung der FARC als Partei ab. Es
wird sich zeigen, ob sie in der Lage sein wird, ihre soziale Basis in
den Regionen aufrecht zu erhalten. Und sie muss undogmatischer werden.
Ihr Diskurs wirkt auf mich seit einiger Zeit frischer und ist dem Alltag
der Menschen näher als früher. Was aber viel wichtiger ist als Erfolge
der Linken an den Wahlurnen, ist, dass sich soziale Organisationen in
Kolumbien konsolidieren können.
Allein seit dem Beginn des endgültigen Waffenstillstands vor zwei
Wochen sind 13 soziale Aktivisten von Paramilitärs getötet worden. Worin
wurzelt die Hoffnung, dass sich die Repression nicht fortsetzt?
Im Vergleich zu früheren Friedensprozessen gibt es drei Aspekte, die ein
wenig optimistisch stimmen. Erstens gibt es nun keine Linke mehr, die,
wie die FARC seinerzeit, die »Kombination aller Kampfformen«, also
gleichzeitig den zivilen und bewaffneten Weg zum Erreichen ihrer
politischen Ziele verfolgt. So konnte die extreme Rechte die Tötungen
linker Politiker leichter rechtfertigen. Zweitens wurden in Havanna
erstmals Mechanismen vereinbart, die den Schutz der Akteure auch von
staatlicher Seite gewährleisten sollen. Drittens könnte durch die
Beteiligung der Militärs an den Friedensverhandlungen verhindert werden,
dass die Streitkräfte sich an der Ermordung beteiligen oder
Paramilitärs dabei unterstützen.
Zum Original