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Die schwänzende Schülersprecherin

Während sie erzählt, wie das zusammenpasst, sitzt Jerma in Mitten des Rosengartens des Münchner Westparks - einem ihrer Lieblingsorte. Ihre Mitschüler vergnügen sich zur gleichen Zeit auf einer Klassenfahrt in Berlin. Die 17-Jährige durfte nicht mit in die Hauptstadt, als Strafe für ihr vieles Schwänzen. In diesem Schuljahr wurden ihre Noten fortwährend schlechter, auch in den sprachlichen Fächern, die sie doch eigentlich mag. „Ich habe einfach nie gelernt, zu lernen", sagt Jerma, die seit ihrem 13. Lebensjahr nicht mehr bei ihrer Mutter lebt, sondern im betreuten Wohnen. Sie muss für sich kochen, ihre Wäsche selbst waschen und selbstständig dafür sorgen, dass sie morgens aufsteht und pünktlich zu Schule geht. Letzteres klappt nicht immer. Mit jeder weiteren kassierten Fünf oder Sechs fällt es ihr schwerer sich morgens aufzuraffen. In diesem Jahr ist sie viele, viele Male zu spät, später gar nicht mehr zum Unterricht erschienen. Die Schule reagiert mit einem Disziplinarverfahren und einem zeitweiligen Schulausschluss.

Im Unterricht fühlt sich Jerma als Problemkind abgestempelt, vorgeführt, unverstanden und machtlos. „Ich weiß ja, dass ich nicht immer eine vorbildliche Schülerin bin. Aber die ganze Zeit über hat niemand mal nach dem Warum gefragt". Jerma findet, der Fehler liegt tief drinnen im deutschen Schulsystem. „Der Blick auf den individuellen Menschen geht verloren. Die Lehrer müssen uns streng nach Lehrplan alles Mögliche Wissen in die Köpfe kloppen. Da bleibt keine Zeit für zwischenmenschliches." Das ist falsch, meint sie, schließlich sollen Schulen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Geist und Körper, Herz und Charakter bilden. Sie zitiert diesen Satz auswendig aus dem 1. Artikel des Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetzes.

Jerma wünscht sich ein Miteinander der Lehrer, Eltern und Schüler: „Ich habe es satt, dass ständig über uns, aber nicht mit uns geredet wird." Zu diesem Thema spricht sie in der vollen Aula vor Schülern und Lehrern, moderiert eine Sendung im lokalen Radio und engagiert sich für die Schülerkampagne „Wir sind viele". Ist sie nicht nervös, vor all diesen Menschen zu sprechen? „Nö, reden kann ich." Sie scheut sich auch nicht, einem jungen Referendar Tipps zu geben, wie er seinen Unterricht spannender gestalten kann. „Der hat sich gefreut und erzählt, was für einen Druck er hat, immer nur ausreichend Noten zu produzieren." Mit dem Flexi-Jahr will die bayrische Regierung den Druck aus dem achtjährigen Gymnasium nehmen. Wenn Jerma nachdrücklich ihre Argumente gegen das Reformpaket vorträgt, kann man sich gut vorstellen, dass sie irgendwann eine NGO leitet, einem Unternehmen vorsteht oder einfach alles erreicht, was sie gerne möchte. Ihre Noten sprechen eine andere Sprache.

Während ihres Schulausschlusses musste sie ein Praktikum machen. „Ich sollte sehen, was mir ohne Abschluss blüht", meint Jerma. Sie weiß, das Jahr ist verloren. Zu viel Unterricht hat sie verpasst - erst durch das Schwänzen, dann durch den Schulausschluss. Paradoxerweise empfindet sie die Situation weniger belastend als zuvor. „Ohne den Druck fiel es mir leichter regelmäßig hinzugehen und ich war auch nur ein paar Male unpünktlich." Doch das langt nicht: sie kommt ohne Vorwarnung vor einen zweiten Disziplinarausschuss. „Es ist nicht unsere Aufgabe Dich zu motivieren", heißt es dort und dass sie sehr dicht vor einem Abgrund stehe. Was ihr ohne Abschluss für ein Absturz bevorsteht, visualisiert der Direktor, indem er einen Stift an den Rand des Tisches schiebt, und schließlich über die Kante schubst. Während sie das erzählt, vibriert der sonst so taff wirkenden Jerma die Stimme. Beim nächsten Vergehen droht ihr der endgültige Schulverweis.

Den verpassten Stoff muss sie nun alleine nachholen, nach den Sommerferien kommt sie in eine neue Klasse. Ihr Ziel ist die mittlere Reife, später auch das Abitur. Denn Jerma will studieren. Als Reisejournalistin zu arbeiten, das könnte sie sich vorstellen. Damit sie sich auf das Lernen konzentrieren kann, hat die Schulleitung sie aufgefordert, das Amt als Schülersprecherin niederzulegen. Doch das kommt für Jerma nicht in Frage. „Ich will noch so viel bewirken. Außerdem darf mir die Schule das gar nicht verbieten". Den entsprechenden Passus hat sie im Gesetz nachgelesen.

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