Erneuerbare Energien wie Wind- und Solarstrom verdrängen Strom aus anderen Kraftwerken - das ist ja gerade der Kern der Energiewende. Verdrängt wird dabei aufgrund der Mechanismen des Strommarkts der teuerste angebotene Strom aus konventionellen Anlagen. Das ist bei den derzeitigen Brennstoff- und Emissionshandelspreise in der Regel Strom aus Gaskraftwerken. Die Folge: An der Strombörse fällt der Preis, denn derzeit billigere Kraftwerke - vor allem Kohlekraftwerke - bestimmen den Preis. Allein in den letzten zwei Jahren ist der Preis an der Strombörse von etwa 60 Euro pro Megawattstunde Strom auf unter 40 Euro gesunken.
In diesem Zusammenhang fällt oft der Begriff "Kapazitätsmarkt". Was bedeutet das und wie unterscheidet sich das vom bisherigen Strommarkt?Am bestehenden Strommarkt werden nur Stromengen gehandelt - er wird daher auch oft Energy-only-Markt genannt. Eine Gewährleistung dafür, dass mit dem Handel von Strommengen auch die Versorgungssicherheit zu jedem Zeitpunkt einher geht, gibt es nicht. In der Vergangenheit war das kein Problem - weil es genug zu verdienen gab, gab es auch immer genügend Kraftwerke. Die jetzigen Strompreise an der Börse sind aber so niedrig, dass damit keine Investitionen in neue Kraftwerke finanziert werden können. Im Gegenteil: Derzeit stehen viele Gaskraftwerke kurz vor der Abschaltung, weil sich ihr Betrieb wirtschaftlich nicht mehr lohnt. Deswegen wird jetzt die Frage diskutiert, ob wir neben dem bestehenden Strommarkt einen sogenannten Kapazitätsmarkt brauchen, der das Bereithalten von Kraftwerken belohnt, um die Stromnachfrage auch zu Spitzenzeiten zuverlässig decken zu können.
Sind also die erneuerbaren Energien Ursache dafür, dass wir einen veränderten Strommarkt, also ein neues Strommarktdesign brauchen?Nein, Kapazitätsmärkte sind in den USA vor etwa 15 Jahren entwickelt worden - und damals gab es dort fast keinen Wind- und Solarstrom. Auch Frankreich, Polen und Großbritannien stehen kurz vor der Einführung von Kapazitätsmärkten, mit viel niedrigeren Anteilen an erneuerbaren Energien als Deutschland. Die internationale Erfahrung zeigt: Die im Zuge der Liberalisierung eingeführten Energy-only-Markte stoßen immer dann an ihre Grenzen, wenn umfangreiche Investitionen in neue Kraftwerke notwendig werden.
Welche verschiedenen Vorschläge für ein solches neues Strommarktdesign gibt es?Es gibt im Kern zwei verschiedene Grundansätze: Die einen sind gegen Kapazitätsmärkte und setzen auf die "Selbstheilungskräfte" des Energy-only-Markts. Sie schlagen vor, zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit eine sogenannte strategische Kraftwerksreserve einzurichten, die außerhalb des Markts unter Aufsicht der Netzbetreiber steht und nur zur Verhinderung eines Blackouts zum Einsatz kommt. Der Einsatz dieser Kraftwerke am Strommarkt soll dann für den höchsten Gebotspreis der Strombörse erfolgen - zurzeit 3.000 Euro pro Megawattstunde. Dadurch, dass ab und zu der Strompreis auf diese extremen Höhen steigt, sollen sich alte und neue Kraftwerke am Markt refinanzieren können.
Und was meint die Seite, die Kapazitätsmärkte befürwortet?In einem Kapazitätsmarkt erhalten Kraftwerke eine Vergütung dafür, dass sie ihre Kapazität jederzeit vorhalten, um die Versorgung sicherzustellen - selbst dann, wenn sie am Strommarkt nicht zum Zuge kommen. Bei der konkreten Ausgestaltung von Kapazitätsmärkten gibt es wiederum unterschiedliche Ansätze bei der Frage, wer die benötigten Kapazitäten bestellt: Ein Teil der Modelle begreift Versorgungssicherheit als öffentliches Gut und lässt die Kapazitäten daher zentral durch den Staat, zum Beispiel in Form von Auktionen, bestellen und bezahlen, das nennt sich zentraler Kapazitätsmarkt.
Ein anderer Teil der Modelle will die Aufgabe der Versorgungssicherheit privatisieren und den Stromverkäufern die Pflicht auferlegen, Kapazitätszahlungen an Kraftwerksbetreiber zu leisten. Das wäre ein dezentraler Kapazitätsmarkt. Zudem wird ein umfassender versus einen fokussierten Kapazitätsmarkt diskutiert. Das bedeutet, das entweder alle Kraftwerke Zahlungen erhalten sollen oder nur Altanlagen, denen die Stilllegung droht, sowie neue Kraftwerke.
Verteuert ein Kapazitätsmarkt den Strompreis?Klar ist: Der derzeitige Preis an der Strombörse ist nicht ausreichend, um die notwendigen Kraftwerksinvestitionen hervorzurufen. Der Strombörsenpreis muss daher unweigerlich steigen, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Die beiden Grundansätze, die ich erläutert habe, verfolgen unterschiedliche Strategien: Bei der strategischen Reserve wird der Strompreis am Energy-only-Markt steigen, bei einem Kapazitätsmarkt wird es zusätzlich zu einem - weiterhin niedrigen - Energy-only-Marktpreis eine Kapazitätszahlung geben.
Es ist bisher noch nicht ausreichend untersucht worden, welcher der beiden Ansätze für die Verbraucher günstiger wäre - aber erste Indikationen sprechen dafür, dass das Modell der strategischen Reserve für die Verbraucher letztlich teurer wird. Innerhalb der Kapazitätsmarkt-Modelle sind die fokussierten Modelle für die Verbraucher günstiger als umfassende Modelle, da nicht stilllegungsgefährdete Kraftwerke keine Zahlungen erhalten. Sie gelten jedoch als weniger effizient.
Was bedeutet das für die Verbraucher?Noch offen ist, inwiefern auch die Preise für die Stromkunden deshalb steigen müssen. Denn bisher sind die sinkenden Börsenstrompreise noch nicht an die Endkunden weitergegeben worden. Die Zusatzkosten eines Kapazitätsmarkts könnten insofern innerhalb der bestehenden Strompreise untergebracht werden.
Und welches Konzept trägt dem Ziel einer steigenden Versorgung durch erneuerbare Energien am ehesten Rechnung?Je mehr erneuerbare Energien in das Stromsystem kommen, desto weniger Nutzungsstunden haben fossile Kraftwerke. Da wir diese aber - wenn auch zum Teil nur für sehr wenige Stunden im Jahr - brauchen, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, werden wir über kurz oder lang ohne einen Kapazitätsmarkt nicht auskommen. Die offenen Fragen sind letztlich zwei: Ab wann brauchen wir einen Kapazitätsmarkt wirklich? Und: Was ist innerhalb der diskutierten Ausgestaltungsvarianten die sinnvollste - gerade auch mit Blick auf eine Welt mit mindestens 80 Prozent erneuerbarer Energien? Diese Fragen sind derzeit noch nicht hinreichend untersucht, um jetzt schon eine Empfehlung abgeben zu können.
Welche Weichen muss die nächste Bundesregierung stellen?Die bisher geltenden Regelungen zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit laufen 2017 aus. Spätestens bis dahin muss klar sein, wie das Strommarktdesign der Zukunft aussehen soll. Die Diskussion dazu verläuft allerdings bisher sehr unstrukturiert und oft hinter verschlossenen Türen. Das wird der Bedeutung des künftigen Strommarktdesigns nicht gerecht. Die künftige Bundesregierung sollte schnell einen offenen und transparenten Prozess zur Entwicklung eines neuen Strommarktdesigns starten, Vorschläge mit verschiedenen Ausgestaltungsvarianten zur Diskussion stellen, Öffentlichkeit und betroffene Verbände aktiv einbeziehen und anschließend, das heißt spätestens 2015 oder 2016, die notwendigen Gesetze und Verordnungen dem Parlament zur Abstimmung vorlegen.
Interview: Daniela Becker
Die Debatte über das Strommarktdesign der Zukunft verläuft zu sehr hinter verschlossenen Türen, kritisiert Patrick Graichen von Agora Energiewende. (Foto: Hanno Böck)
Das Interview erschien zunächst im Online-Magazin goodimpact.org Please enable JavaScript to view thecomments powered by Disqus.comments powered byDiesen Text mit einem Klick honorieren: [Erklärung]
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