Das „Extinction Rebellion Handbuch" gewährt Einblick in die Philosophie der Bewegung. Eine Buchvorstellung von Daniela Becker
München, den 3. September 2019
„Am Ostersamstag war ich bei strahlendem Sonnenschein an der U-Bahnstation Oxford Circus festgekettet. Eine Festnahme stand kurz bevor. Als ich dort, mit einer Hand angekettet, bewegungsunfähig in einem Metallrohr mit Schichten von Beton und Dachpappe lag, war meine Verwundbarkeit groß. Ich konnte spüren, wie heiße Funken um meinen Kopf flogen, und roch verbranntes Metall, während die Polizei meine Ketten durchschnitt."Mit diesen Worten erzählt die Schriftstellerin Jay Griffiths von ihrem aktivistischen Treiben im Rahmen der Bewegung „Extinction Rebellion". Zwei Abende zuvor hatte sie sich bereits gemeinsam mit ihrem Partner auf dem Parliament Square festgeklebt - in der Hoffnung, festgenommen zu werden. „Unsere Hände waren durch Liebe und Sekundenkleber verbunden", fasst sie den Abend in einem Erfahrungsbericht für „Wann, wenn nicht wir*- Ein Extinction Rebellion Handbuch" zusammen, das am 4. September 2019 beim S. Fischer Verlag erscheint.
Im Frühjahr diesen Jahres legten Aktivisten mit Straßen- und Brückeblockaden mehrere Tage London lahm. Bei ihren so genannten „Die Ins" lassen sich die TeilnehmerInnen auf ein Kommando fallen und bleiben wie tot liegen: Auf diese Weise wollen sie das massenhafte Artensterben symbolisieren. Eindrucksvolle Bilder schaffen zum Beispiel die Darsteller der Street Art Performance-Gruppe „XR Red Rebels Brigade" aus Bristol, die ganz in roten Kostümen und weiß angemalten Gesichtern mit starrer Mimik die Blicke der Passanten auf sich ziehen. Während sich die Bewegung Fridays For Future auf angemeldete Demonstrationen konzentriert, wählt XR oft extremere Mittel. Manche Aktivisten ketten sich an Tankstellen, sie demonstrieren an Flughäfen oder fahren mit Rädern auf Autobahnen. Immer mit dem Ziel medienmächtige Bilder und maximale Aufmerksamkeit zu produzieren.
In Großbritannien halten die Aktivisten seit Monaten Polizei und Justiz auf Trab, weil sehr viele der Aktivisten genau wie Griffithsbereit sind, sich festnehmen zu lassen. All das ist kein Zufall. Die Vordenker der Organisation agieren strategisch und organisiert; für das Training neuer Aktivisten im „friedlichen Protest" haben sie eine Schulungsstruktur geschaffen. Dass sich ansonsten völlig unbescholtene Durchschnittsmenschen festnehmen lassen wollen, gehört zum Kalkül. Auf friedvolle Proteste mit Polizeigewalt zu reagieren, sieht für Politik in einem demokratischen Land schlecht aus. Ihre Überlegungen verheimlichen die Aktivisten nicht. Sie betreiben öffentliche Webseiten und Mailinglisten, worüber Bürger sich über anstehende Termin und Trainings sowie die Idee hinter der Bewegung informieren können.
Egal, ob man die Aktionen von XR nun für lächerlich und verwerflich hält, mit der Bewegung sympathisiert oder gar mitmachen möchte: Das Buch „ Wann, wenn nicht wir" ist in jedem Fall lesenswert, weil es sowohl das Selbstverständnis der Gruppe als auch die Strategie bis hin zu den professionell geplanten Medienmaßnahmen offenlegt.
Begonnen hat die Protestbewegung der „Extinction Rebellion" demnach in Bristol, UK, mit fünfzehn Leuten. Getrieben aus Angst und Sorge um die Zukunft ihrer Kinder, ihrer Mitmenschen, ihrer Heimat suchten sie nach Möglichkeiten, in der Gesellschaft einen radikalen Wandel zu einem klimafreundlichen Leben herbeizuführen, heißt es im Buch.
„Warum sind wir so kläglich in dem Bestreben gescheitert, den Klimawandel aufzuhalten? Und wie um alles in der Welt halten wir ihn auf?"schreibt Roger Hallam, einer der Initiatoren von XR.Er zeigt sich überzeugt, dass „die Reichen und Mächtigen mit unserem gegenwärtigen selbstmörderischen Kurs zu viel Geld verdienen, als dass sich eine so fest etablierte Macht durch Überzeugung und Information überwinden" lasse. Das schaffe man nur durch Störung. Das Gesetz brechen, aber immer gewaltfrei, ist in Kürze das Motto von XR. Und Spaß muss es machen.
„Und so erklärten wir am 31. Oktober 2018 unsere offene Rebellion gegen den britischen Staat. Wir rufen alle Bürgerinnen auf, sich gemeinsam mit uns friedlich zu erheben." (Sam Knights)Die Strategie scheint aufzugehen. Die britische Zeitung Guardian hat inzwischen eine eigene Rubrik, die über die Aktionen berichtet. In kurzer Zeit sind auf der ganzen Welt Hunderte Extinction-Rebellion-Gruppen entstanden. Auch in Deutschland wird zunehmend berichtet.
„Wann, wenn nicht wir", daraus machen die Autoren keinen Hehl, will dazu beitragen, die Bewegung weiter bekannt zu machen und versteht sich als Aktivisten-Handbuch. Die Kernbotschaft geht aus den Übersetzung des englischen Buches hervor. Für das deutsche Publikum wurden Beiträge von bekannten Protagonisten der Deutschen Umwelt- und Aktivistenszene ergänzt. Darunter zum Beispiel ein Aufsatz von Maja Göpel, Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), ein weiterer vom Politikwissenschaftler Arne Semsrott, der als Projektleiter von „FragDenStaat" zu Informationsfreiheit und Transparenz arbeitet, sowie ein Text der Anti-Atom-DemonstrantinKerstin Rudek undJean Peters, Aktivist des Peng-Kollektivs, der sich unter anderem stark im Bereich der Seenotrettung engagiert.
Das Buch gliedert sich in drei Teile. Im Kapitel „Die Wahrheit sagen" wird die prekäre Situation von bereits intensiv Betroffenen der Klimakrise zusammengefasst. Zu Wort kommen Überlebende eines Waldbrandes, Bewohner des Himalaya, die berichten, wie sehr sich der einst lebensbringende Monsun in einen Vernichtungsschwall verändert hat, und Bewohner des Tschad, die zusehen müssen, wie der einst riesige Tschadsee zu einer Pfütze zusammenschrumpft. Besonders einprägsam die Worte von Mohamed Nasheed, dem ehemaligen Staatspräsidenten der Inselgruppe der Malediven.
„Wir sind anfällig, aber wir sind nicht bereit zu sterben. Die Bevölkerung der Malediven hat nicht die Absicht, zu den ersten Opfern der Klimakrise zu werden. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um unsere Korallenriffe zu erhalten und den Kopf über Wasser zu halten." (Mohamed Nasheed)Sich einmal mehr die vielen Geschichten von der sinnlosen Zerstörung des Planeten vor Augen zu führen und das Leid, das sie auslöst, wird für viele Menschen schmerzhaft zu lesen sein. Je mehr man als LeserIn davon erfährt, in was für eine Lage sich die Menschheit hineinmanövriert hat, desto niedergeschlagener könnte man sein.
„Wir sehen düsteren Zeiten entgegen. Die Menschheit befindet sich in einer Situation, wie es sie in unserer Geschichte noch nie zuvor gegeben hat. Eine Situation, eine Krise, die, wenn wir sie weiterhin ignorieren, alles zerstören wird, was uns lieb und teuer ist: unsere Heimat, unsere Mitmenschen, unsere Ökosysteme und die Zukunft unserer Kinder."Mit diesen Worten beginnt das XR-Manifest. Es ist genau dieser Schmerz, diese Angst, diese Wut, die XR nutzen will.
„Mit dem Wissen kommt der Kummer. Ein Kummer, der dich wie ein dumpfer, beängstigender Schlag trifft. Kummer ist schwer zu ertragen. Mit dem Kummer gehen Schmerz und Verlust einher. Keine einfachen Gefühle. Ebenso wenig wie Schuld, Wut und Verzweiflung." (Susie Orbach)„Klimakummer" nennt die britische Psychoanalytikerin Susie Orbach dieses Gefühl. Orbach schreibt, es sei allerhöchste Zeit sich diesen Gefühle zu stellen - ohne daran zu verzweifeln. Das gelinge, so ihr Fazit, wenn Kummer und Wut produktiv kanalisiert werde. Letztlich - und dieses Motto zieht sich durch das ganze Buch - gehe es um „Liebe". Liebe zu den Menschen, der Schönheit des Planeten und Liebe für die nächsten Generationen, die nicht nur überleben, sondern gut leben dürfen sollen. „Love and Rage", mit dieser Formel unterzeichnen die Aktivisten auch stets ihre Mails. XR wendet sich an Menschen, die traurig und zornig und es gleichzeitig leid sind, gesagt zu bekommen, dass sie nichts tun könnten. XR will den Drang „etwas tun zu müssen" befriedigen und nutzt diese Verzweiflung, die Wut und die Hilflosigkeit, die angesichts der immer neuen erschreckenden Meldungen zum Tempo des Klimawandels und Zustand der Erde offenbar immer mehr Menschen verspüren.
„Sich Gefühlen zu stellen ist weder ein Ersatz noch eine Ablenkung von politischen Aktionen. Gefühle sind vielmehr ein wichtiges Merkmal unserer politischen Aktivitäten. Unsere Gefühle - uns und anderen - zuzugeben, macht uns stärker. Wir müssen trauern und organisieren, nicht entweder das eine oder das andere." (Susie Orbach)Susie Orbach betont wie wichtig es sei,in breiten Koalitionen zusammenzuarbeiten, die unterschiedliche Ansichten tolerieren können, statt sich auseinander dividieren zu lassen und damit wirkungsvolle politische Interventionen zu gefährden.
Im zweiten Teil des Buches wird unter dem Stichwort „Jetzt handeln" sehr akkurat beschrieben, wie XR sich „politisch werden" vorstellt. Roger Hallam nennt es das Modell „des zivilen Widerstands ".
"Die Obrigkeit steckt nun in einem ernsthaften Dilemma: die Leute weiter auf der Straße Partys feiern lassen oder sich für Repression entscheiden. Der Staat kann euch nicht weitermachen lassen - aber wenn er sich für Massenfestnahmen oder den Einsatz von Gewalt entscheidet, werden Millionen Menschen es sehen. Es wird in den internationalen Nachrichten sein. Es braucht nur ein Prozent der Zuschauerinnen, die diese Störaktion beobachten, sich zu sagen: ≫Das ist fruchtbar, ich werde diese Leute unterstützen≪, dann bedeutet das Schachmatt für die Obrigkeit, game over. Je mehr Leute sie von den Straßen holen, umso mehr kommen nach. Die Angst ist weg, und die Party geht weiter." (Roger Hallam)Dass es XR gelingt, eine recht breite Gruppe von Menschen zu aktivieren, liegt sicherlich auch daran, dass sie sich darauf beschränken, sehr übergeordnete und allgemeine Forderungen zu stellen. Gefordert wird, dass „die Regierung die Wahrheit sagen muss, indem sie einen klimatischen und ökologischen Notstand erklärt" und sie solle "eine Bürgerversammlung für Klima- und Ökogerechtigkeit schaffen und sich von deren Beschlüssen leiten lassen". Sehr deutlich ist zwar das Ziel formuliert, die Treibhausgasemissionen bis 2025 auf null zu reduzieren. Wie allerdings in so kurzer Zeit die Transformation in eine CO2-neutrale Welt ohne gesellschaftliche Verwerfungen gelingen soll, bleibt unklar.
Sehr konkret hingegen sind die Hinweise im dritten Teil „How to" zur sicheren Kommunikation, Bastel-Anleitungen und Ratschläge, wie wichtig die Verpflegung für die Moral der „Truppen" ist und wir man Verhaftete unterstützt. Lesenswert ist auch der Erfahrungsbericht einer Mutter, die tatsächlich einige Tage Untersuchungshaft in einem Gefängnis verbringen musste.
Wie auch immer man zu der Bewegung steht. Sicher ist, dass sie die Klimakrise und das Artensterben mehr in die breite Öffentlichkeit gerückt hat.
„Die Anklage gegen meine Freundin wurde vor einigen Wochen vor Gericht verhandelt. Der Richter sprach das mildeste Urteil, das möglich war. Ihre Anwältin verwies auf das Pariser Klimaschutzabkommen, sprach dabei versehentlich von der Pariser Kommune, entschuldigte sich und erklärte, was den Klimawandel angehe, sei sie ein Neuling. Der Richter schaute sie streng an und erklärte: "Keiner von uns kann es sich leisten, ein Neuling zu sein, wenn es um Klimawandel geht."" (Jay Griffiths)Dieser Artikel erscheint in der Koralle KlimaSocial von Riffreporter.de. KlimaSocial steht für einen Perspektivwechsel. Die Klimaforschung, über die wir hier schreiben, richtet ihren Blick weder auf Physik noch Technik, sondern auf soziale Prozesse. Alle unsere Texte finden Sie hier.