Daniel Urban

Wort & Ton, Frankfurt am Main

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Artikel

Am Ende der Straße des Fortschritts

Das MMK Zollamt zeigt noch bis zum 16. September Arbeiten des mexikanischen Künstlers Mauricio Guillén, die die Auswirkungen und Möglichkeiten des Fortschritts verhandeln.

Am Anfang ist da nur die Tonspur, das Bild bleibt schwarz. Wir hören Menschen mitein­an­der tuscheln, unde­fi­nier­ba­res Durch­ein­an­der, es wird immer leiser, schließ­lich erscheint eine Hand im Bild und beschreibt das Schwarz, welches nun als Tafel erkenn­bar wird, mit Kreide. Das Bild öffnet sich und wir befin­den uns in einem Unter­richts­raum, das an die Tafel Geschrie­bene ist eine Aufga­ben­stel­lung. Es sitzen neben dem Profes­sor nur noch zwei Studen­ten im Raum, der Profes­sor für Philo­so­phie und Ästhe­tik drängt zur Abgabe. Nach­dem die beiden Studen­ten wider­wil­lig ihre Klau­sur abge­ben haben, begeg­net er ihnen noch­mals drau­ßen auf der Straße.

Als einer der beiden Studen­ten ihm nun selbst­be­wusst den Rauch eines Joints ins Gesicht bläst, winkt er schnell ein Taxi herbei und verlangt an das Ende der Aven­ida Prog­reso, der Straße des Fort­schritts, gefah­ren zu werden. Vorbei an Stra­ßen­schil­dern mit Namen von großen abend­län­di­schen Intel­lek­tu­el­len wie Aris­to­te­les, Voltaire, Kant und Hegel fährt der Profes­sor durch eine erstaun­lich euro­päi­sche anmu­tende Stadt, hört Schön­berg über seinen Walk­man und verun­mög­licht den typi­schen Small-Talk mit dem Taxi­fah­rer durch hoch­tra­bende philo­so­phi­sche Antwor­ten, bis er schließ­lich am Ende der Straße des Fort­schritts aussteigt. Der Taxi­fah­rer verab­schie­det ihn im Wegfah­ren mit dem Ausruf „Igno­rante!“.

Das Herz­stück der Ausstel­lung des 1971 in Mexiko-Stadt gebo­re­nen Künst­lers Mauricio Guillén ist eben dieser knapp 20 minü­tige Film „Aven­ida Prog­reso“, welcher auf dem heute längst nicht mehr gängi­gen 16 mm Film­ma­te­rial gedreht wurde. In seinen kontrast­rei­chen schwarz/weiß Einstel­lun­gen erin­nert er an den euro­päi­schen Auto­ren­film der 1960er-Jahre. Wenn der Profes­sor bei einer Tunnel­durch­fahrt nur noch als schwarze Silhou­ette im Auto zu sehen ist, rufen diese Bilder unwill­kür­lich Asso­zia­tio­nen an Felli­nis „8 ½“ wach. Aber nicht nur formal wirkt der Film wie eine Hommage an jene Zeit. „Aven­ida Prog­reso“ erin­nert stark an italie­ni­sche Filme der Post-Neorea­lis­mus-Ära wie die des Filme­ma­chers Miche­lan­gelo Anto­nioni, die sich poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Themen über das entfrem­dete Indi­vi­duum näher­ten, denen Kommu­ni­ka­tion und Konflikt­lö­sung nicht mehr möglich scheint.

So wirft auch Guilléns Film vorwie­gend Fragen auf, anstatt Antwor­ten an die Hand zu geben. Fragen nach Fort­schritt und Errun­gen­schaf­ten der Aufklä­rung, nach Kolo­ni­sa­tion und Gesell­schaft folgt auf der narra­ti­ven Ebene keine Antwort. Viel­mehr wird dies auf der Bild­ebene verhan­delt. Die versteht es gekonnt, ein melan­cho­li­sches Gefühl der Reue, des verpass­ten Momen­tes zu evozie­ren. Und so endet die Reise durch Mexiko-Stadt am Ende der Aven­ida Prog­reso, in einer herun­ter­ge­kom­me­nen Sied­lung, zu denen die Stra­ßen Stalin, Trotzki und schluss­end­lich Marx führen.

Die weite­ren Arbei­ten von Guillén in der Ausstel­lung “Aven­ida Prog­reso” fügen sich wunder­bar in das Gese­hene ein. Die vom Künst­ler bear­bei­te­ten Illus­tra­tio­nen zu Reise­be­rich­ten von Alex­an­der Humboldt mit dem Titel „I don’t believe in Aliens“ oder die Arbeit „AnAlpha­bet“, welche William Nichol­sons bekann­tes Holz­druck-Alpha­bet mit Begrif­fen wie A for Artist, B for Beggar, I for Idiot oder Z for Zoolo­gist zu einem ca. 5 Meter langen Falt­buch zusam­men­setzt, verwei­sen, wie auch die Stra­ßen­na­men im Film, haupt­säch­lich auf Begriffe, die an vergan­gene Ideo­lo­gien oder Ideale erin­nern, aber – je nach Betrach­ter – nur noch als Ironie oder Nost­al­gie in der Gegen­wart nach­wir­ken. Auch der Profes­sor im Film scheint aus der Zeit gefal­len und gefan­gen in einem Netz aus abstrak­ten Begrif­fen und hehren Idea­len, während er gleich­zei­tig deut­li­che Schwie­rig­kei­ten mit der Bedie­nung eines Bank­au­to­ma­ten oder moder­ner Archi­tek­tur hat.

Zu Beginn des Films schreibt der Profes­sor den Satz „Ever­y­thing that aims at an effect is in bad taste“ von Honoré de Balzac an die Tafel, welcher am Ende wieder abge­wischt wird. Genau dieses Diktum berück­sich­tigt Mauricio Guillén in seinen Werken und entlässt den Besu­cher nach­denk­lich in die effekt­be­la­dene Gegen­wart.



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