Daniel Hinz

Freier Journalist & Reporter, Berlin

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Artikel

Speichel ist Liebe

Jeden Tag produziert unser Körper eine Menge Spucke, wir brauchen sie zum Leben, finden sie aber häufig auch ziemlich eklig. Eine Betrachtung eines ambivalenten Verhältnisses.


von Daniel Hinz, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 28, 17.Juli. 2022.


"Es wird schon alles gut werden", sagt mein Vater. Er dreht seinen Kopf nach links. Noch ein Stück. Wippt etwas zurück. Wieder nach links. Wieder etwas zurück. Wie bei einem Maschinengewehr entweichen Luft und etwas Flüssigkeit aus seinem Mund. Er spuckt mir über die Schulter, wie man sagt. Alles wird gut. Gespuckt wird mehr metaphorisch als physisch: Spucketröpfchen sind Kollateralschäden und eher die Ausnahme. Dieses Ritual kenne ich seit meiner Kindheit. Meine Familie kommt aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Kasachstan. Das Spucken soll Böses verscheuchen. Das weiß ich. Aber was die Bedeutung des Über-die-­Schulter-­Spuckens ist - das weiß ich nicht.


Unser täglicher Begleiter „Speichel" trägt viele Namen: Spucke, Sabber, Geifer. Wissenschaftler sagen dazu Saliva. Wieso haben wir Speichel, wieso spucken wir, und was für eine Bedeutung hat der Speichel für uns?


Speichel ist für viele Menschen ein Ekelthema. Dabei kann Speichel sogar Krankheitserreger stoppen. Fast jeder hat sich schon mal den verletzten Finger in den Mund gesteckt oder über seine eigene Wunde geleckt. Dieses fast in­stinktive Handeln ist nicht die modernste Wundversorgung, aber durchaus sinnvoll. Im Speichel befinden sich nämlich Stoffe, die antibakteriell und desinfizierend wirken. So kann Speichel sogar zu einer schnelleren Heilung beitragen.


Speichel und Spucke sind ein tatsächlich kontroverses Thema. Spucken hat keinen guten Ruf in der westlichen Welt. Nicht ohne Grund heißt es, dass man auf etwas spuckt: Es ist egal. Spucken ist ein ­Statement. Wenn uns jemand vor die Füße spuckt, ist das eine Machtdemons­tration. Derjenige spuckt große Töne und markiert mit Speichel sein Revier. Spucken die Bushaltestellen-­ und Hauptbahnhofspucker deshalb dort? Weil sie ihre Coolness möglichst vielen Menschen präsentieren möchten? Macht der Ort einen zur Spuckschleuder? Spucken ist ein Akt der Aggression. In Kinofilmen spucken die Anführer irgendwelcher Jugendgangs erst mal auf den Bo­den, bevor sie ein paar Schläge verteilen.


Ruinierter Ruf

Seit das Coronavirus im Jahr 2020 ausbrach, ist das Spucken sozusagen in aller Munde. Denn wir lernten alle, dass wir Menschen eigentlich Dauerspucker sind. Ständig geben wir Aerosole ab, die dann durch den Raum schweben – sie sind gefährlich, klein, hinterlistig. Die Mischung aus Spucketröpfchen und Luft macht aus der Aggression des Spuckens eine stille und ungewollte, im schlimmsten Fall tödliche Angelegenheit. Und weil der Ruf des Coronavirus nun unweigerlich mit dem Ruf der Aerosole zusammenhängt, scheint der Ruf von Speichel und Spucke endgültig ruiniert.


Doch Speichel ist seit Anbeginn unseres Lebens immer da. Ein Grund, das Thema Saliva auch wissenschaftlich etwas genauer zu beleuchten, denn überall im Alltag begegnet man Speichel und Spucke. Nicht erst seit Corona.


Nachdem ich durch den Hauptbahnhof gejagt bin, im Zickzack vorbei an diversen Spuckschleudern, setze ich mich ins Bordbistro des ICEs und trinke einen Kaffee. Das klebrige Pappen des Kaffees in meinem Mund, als ich einen großen Schluck nehme, bringt mich auf die Idee, über das „durchsichtige Gold“ genauer nachzuforschen. Laptop auf, Google an. Spucke und Speichel ist Lösungsmittel und Schmierstoff zu­gleich. Circa 1,5 Gramm Eiweiß, dazu Ammoniak, Harnsäure, Harnstoff, Folsäure, Vitamin C, Natrium, Kalium, Verdauungsenzyme: dieser Cocktail fließt in unserem Mund. Zwischen einem halben und 1,5 Liter Speichel mit all seinen Bestandteilen produziert der menschliche Körper täglich. Das Eiweiß mit Kohlenhydraten in Form des Schleims, die Mucine, bilden den Mundhöhlenfilm, also das, was einem das Feuchtigkeitsgefühl im Mund gibt. Genau wie in der Speiseröhre und in Magen und Darm. Lecker. Ich kippe mir den Kaffee rein.


Der Mensch wird nicht als Bahnhof-Spuckmonster geboren

Der Speichel hat eine wichtige Funktion. Doch neben der wissenschaftlichen Funktion hat Sabber auch eine wichtige gesellschaftliche Rolle und begleitet den Menschen ein Leben lang, von Anfang an. Schon Kleinkinder kommen damit in Berührung. Bei vielen Babys fließt der Speichel nur so im und aus dem Mund. Doch Babys spucken nicht, bevor sie es nicht erlernt haben. Bei Babys ist Speichel wichtig, er macht das Zahnen erträglich, und die Zungengrund-Drüse stößt das fettspaltende Enzym Lipase aus, das für Säuglinge ein besonderer Energiezünder ist: Lipase spaltet Fette und macht damit auch das Muttermilchfett verdaubar. So kann die Muttermilch lange einen großen Teil des Energiebedarfs von Babys decken.


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