Daniel Hinz

Freier Journalist & Reporter, Berlin

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Artikel

Teil doch!

Es sieht niedlich aus, aber was bedeutet es für Zwillinge, wenn Eltern sie immer gleich anziehen? Unser Autor war in seiner Kindheit selbst betroffen - und denkt zurück an einen Kampf um die eigene Identität und Persönlichkeit.


Alles wegen eines T-Shirts. Sechste Klasse, 9.35 Uhr. Ich stehe auf dem Pausenhof in einem Kreis mit Freunden, trage das T-Shirt, das ich meinem Zwillingsbruder morgens aus dem Schrank geklaut habe. Mein Bruder entdeckt mich, entdeckt sein T-Shirt, entdeckt seine Wut, rennt auf mich zu. Und zack, klatscht seine flache Hand auf meinen Nacken. Wir haben uns oft gestritten wegen Mode, gerade in der Pubertät. Das geklaute T-Shirt steht auch in diesem Moment für den Kampf um die eigene Individualität.


Die Haare, die Form der Ohrläppchen, die Stirn, Augenform, die Größe der Nase, die Länge der Arme, die Hände, Finger und Beine: alles gleich. Das Einzige, was voneinander unterscheidet, wenn Körper und Gesicht gleich aussehen, ist das Stück Stoff, das diese Stellen verdeckt. Mein Zwillingsbruder und ich sehen uns verdammt ähnlich. Kleidung zeigt anderen, wer man ist. Deshalb war es ein Riesending, sich die Klamotten des anderen anzueignen.


Rein in die gleichen Klamotten

Ich betone gerne, dass ich der Ältere bin, als ob mir das jemals Vorteile gebracht hätte. 14 qualvolle Minuten, wie meine Mutter betont, liegen zwischen uns. Fortan hielt sie das Modezepter über uns. Was für eine Wahl hatten wir, also rein in die gleichen Klamotten. Heute frage ich mich: Was machte das eigentlich mit jedem von uns beiden?

Meistens stellen sich diese Frage die Eltern. Wie kleide ich meine Zwillinge? Oft ist es pragmatischer, im Doppel zu kaufen. Oder es sieht süß aus. Ich stelle mir die Frage, weil es darum geht, wie ich wahrgenommen werden will. Als ich? Oder als wir? Wer bin ich, wer will ich sein? Die Frage stellt sich auch immer öfter, denn es werden immer mehr von uns geboren. Einer Studie der Universität Oxford zufolge gebären Frauen weltweit jährlich mehr als 1,6 Millionen Zwillingspaare. Damit ist die Zahl von Zwillingsgeburten seit den Achtzigerjahren um ein Drittel gestiegen. Eine von rund 40 Schwangerschaften ist betroffen. Das könne daran liegen, dass Frauen durchschnittlich später Kinder kriegen und künstliche Befruchtungen zunehmen, so die Vermutungen in der Studie.


Der Arzt sagte damals bei unserer Geburt, wir seien zweieiig. Eineiige Zwillinge besitzen exakt übereinstimmende Gene und entstehen aus einer befruchteten Eizelle. Bei zweieiigen stimmt das Erbgut nur in etwa zur Hälfte überein, so wie bei gewöhnlichen Geschwistern. Unsere Biologielehrerin in der fünften Klasse fand das verrückt, denn die Wahrscheinlichkeit sei 40 Millionen zu eins, dass wir uns so ähnlich sehen und zweieiig sind.


Er trug Chucks, ich Vans

Auf dem Gymnasium entrissen wir Mutter dann endgültig das Modezepter. Jetzt hatte jeder sein eigenes Abteil im Kleiderschrank. Er trug Chucks, ich Vans. Er Hemden, ich Pullis. Er begann Klamotten im Internet zu bestellen, ich ging in die Innenstadt. Er war mir immer Vorbild, ich war immer ein Nachmacher. Die Zeiten in Grundschule und Kindergarten, als wir oft das Gleiche trugen: vorbei. Damals wie heute denke ich: Das war wichtig.


Ich suche im Netz nach berühmten Zwillingen. Tennisprofi Roger Federer und seine Frau kaufen die Outfits für ihre Zwillingspaare immer in zweifacher Ausführung. Sängerin Mariah Carey wählt passend zu gleichen Outfits ähnliche Namen: Moroccan und Monroe, kurz Roc und Roe. Wie viel Gleichheit tut gut, frage ich mich. Es gibt Studien, die von Problemen berichten, die entstehen, wenn Eltern ihre Zwillinge gleich anziehen. Durch die „äußere Gleichmachung“ bestehe die Gefahr, dass sie als eine Art Darsteller Aufmerksamkeit bekommen und deshalb ein „Bühnendasein“ leben.


Der Fluch des ewigen Vergleichs

Individualität zu entwickeln bereite Zwillingen dann Schwierigkeiten. Da ist auch was dran. Exoten waren wir. Natürlich nicht wie Tom und Bill Kaulitz von Tokio Hotel, aber wir waren immer im Doppelpack. Ich fühlte mich früh verantwortlich für das, was mein Bruder tat, genauso wie er mit mir in einen Topf geworfen wurde, wenn ich Mist baute.


Als Zwillinge stehen wir im Vergleich zu einem Menschen, der dieselben Voraussetzungen hat. Das trieb mich in den Wahnsinn. Dieser ständige Vergleich. Ich bin doch trotzdem ich, nicht er. Heute bin ich 25 und wehre mich immer noch strikt dagegen.

Es gab aber nicht nur ständige Konkurrenz. Ein Sommer, irgendwann als wir zwölf oder 13 waren. Direkt nach der Schule schlüpfen wir in Sportklamotten, mein Bruder klemmt den Ball unter seinen Arm, beide sprinten wir los zum Bolzplatz, hüpfen über ein Bächlein, klettern unterm Zaun durch. Er stellt sich ins Tor, ich schieße. Unzählige Nächte verbringen wir vor der Playstation, die Ferien verschwenden wir zusammen. Ich muss nie allein sein. Zwei beste, gleich aussehende Freunde.


Kleider als Spalter und Brücke zugleich

Auch beim Streitpunkt Kleidung hat ein Doppelgänger Vorteile: Am anderen sieht man, was einem vielleicht doch besser steht. Kleidung war Geben und Nehmen, Spalter und Brücke zugleich.

Eine Sache teilten wir uns optisch eine gefühlte Ewigkeit – unseren Kampfsportanzug. Seit wir sechs waren, trainierten wir Taekwondo. Montag, Mittwoch, Freitag, ab in die stickige Turnhalle. Jeder in seinem weißen Anzug, mit Gurt. Oft hörte ich dort: „Kann sich mal einer von euch die Haare blau und der andere rot färben?“ Und jedes Mal sagte ich, super Idee. Witzig. Das war gelogen.

Denn schaffte einer die Prüfung zum nächsten farbigen Gurt nicht, würde man uns unterscheiden können. Einer wäre dann der „schlechtere“ Zwilling, es gäbe eine Hackordnung. Die wollten wir nicht von außen bestimmt, sondern zwischen uns ausmachen. Und auch nicht auf der Kampffläche. Irgendwann hielten wir es wie die Klitschkos, keine Kämpfe auf Turnieren gegeneinander.

Nicht „die Zwillinge“ sein

Vor Kurzem saßen ein Freund, mein Bruder und ich in unserer Heimatstadt in einem kleinen Café. Der Freund erzählt von zwei anderen Zwillingen, er sagt: Klone. Beide Mitte 30, ziehen das Gleiche an, haben noch nie länger als zwei Tage getrennt voneinander verbracht, das Gleiche studiert, arbeiten heute im gleichen Beruf, schlafen im selben Zimmer, können quasi im Bett zum anderen hinüberblicken. Ich denke mir nur: Horror, gucke zu meinem Bruder, er denkt das auch, so wie er sein Gesicht verzieht. Privatsphäre, die hatten wir 16 Jahre unseres Lebens nicht, bevor wir getrennte Zimmer bekamen. Jetzt leben wir in unterschiedlichen Städten. Jeder geht seinen Weg. Ich finde: Irgendwann müssen Zwillinge den Absprung schaffen, sich trennen, sonst gibt es keinen Fortschritt. Und dabei spielt auch die Kleidung eine wichtige Rolle.


Seit Sekunde eins herrscht zwischen vielen Zwillingen der Kampf um die eigene Identität und Persönlichkeit. Gerade weil wir Aufmerksamkeit und Kleidung teilen mussten, entstand Konkurrenz. Die Frage ist nicht, ob Zwillinge eine eigene Identität ausbilden, sondern wie weit sie irgendwann auseinanderklafft. So war es zumindest bei uns. Es gibt bestimmt harmonischere Zwillinge, die „Klone“ zum Beispiel. Uns ging es immer darum, zu zeigen, dass wir uns voneinander unterscheiden. Wir wollten nicht nur „die Zwillinge“ sein.


Was sagt die Forscherin?

In Kalifornien scheint durch halb geöffnete Rollläden die Sonne in die Wohnung der renommierten Zwillingsforscherin Nancy Segal. Ich bin mit ihr zum Videocall verabredet. Sie ist selbst Zwilling und sagt: „Eltern stecken Zwillinge gerne in gleiche Klamotten. Weil es niedlich ausschaut, weil man stolz ist, weil die Kinder leichter auf dem Spielplatz zu finden sind.“

Segal findet es nicht schlimm, wenn Eltern ihre Kinder zunächst gleich anziehen: „Aber man muss immer auf die Bedürfnisse eingehen.“ Wenn Zwillinge als getrennte Individuen wahrgenommen werden wollen, werden sie sich bemerkbar machen, so wie wir damals. Wobei: Ich denke an die Klone, die mit Mitte 30 noch zusammenleben. Vielleicht müssen Eltern sie auch ein bisschen zwingen. Ihnen unterschiedliche Klamotten kaufen. Den Modehorizont eröffnen. Und damit das Leben.


Ich erzähle Segal, was meine Biologielehrerin über unsere Zweieiigkeit dachte. Sie erklärt, dass eineiige Zwillinge in einem Drittel der Schwangerschaften ihre eigene Fruchtblase besitzen und dann oft irrtümlich als zweieiig klassifiziert würden. Vielleicht sind wir also doch eineiig? „Gut möglich.“


An einem x-beliebigen Tag trägt mein Bruder heute eine schwarze Cordhose, vor Kurzem hat er sein viertes oder fünftes Tattoo stechen lassen. Ein Piercing baumelt an seiner Nase. Hipster-Look. Ich sehe brav aus dagegen, keine Tattoos, Anzughose, Rollkragenpullover. Wir haben nicht den gleichen Kleidungsstil, spüren nicht, wenn es dem anderen schlecht geht, und uns verbindet kein unsichtbares Band. Doch wir verstehen uns auf einer tieferen Ebene. Es vergeht kaum ein Tag ohne ein kurzes „Bro, wie geht’s“ über Whatsapp.


Kleidung war für uns immer eine Chance, nicht nur ein Problem. Auch den Streit in der sechsten Klasse legten wir schnell bei. Zu Weihnachten schenkten wir uns damals gegenseitig jeweils: ein T-Shirt.

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