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Ein feministischer Verein will Vorurteile gegen Sinti und Roma abbauen

Foto: KITTY KLEIST-HEINRICH/Tagesspiegel

„Romani Chaji geht, wie jeden Morgen, Zähne putzen, Gesicht waschen und sich anziehen." Das Kind freue sich schon auf den Tag, heißt es im Film. Der Name der aufgeweckten Zeichentrick-Protagonistin mit dem blauen Pulli und den schwarzen Zöpfen steht in der Sprache Romanes für „Romani-Mädchen". Erstellt hat den rund elfminütigen Animationsfilm „Ein Tag in Romani Chajis Leben" die Mädchengruppe des feministischen Romnja-Vereins RomaniPhen in Alt-Treptow. „Darin erzählen wir davon, was wir selbst erlebt haben", sagt die zwanzigjährige Estera Iordan, die das Team leitet.

Denn so normal, wie der Tag für die Teenagerin im Film auch beginnt, geht er nicht weiter. Mehrmals bekommt das Mädchen eine schlechtere Behandlung zu spüren als andere Kinder. Iordan kennt diese Erfahrung auch. Vor zehn Jahren zog sie mit ihrer Familie aus Rumänien nach Deutschland. „Auf uns mit dem Finger zu zeigen, war dort damals fast normal", sagt sie. Man habe die Benachteiligung und die Blicke irgendwann nicht gar mehr hinterfragt - nur hingenommen: „Als Kind bin ich nicht darauf gekommen, dass so eine Ungleichbehandlung nicht sein darf."

Das wurde Iordan erst in Berlin bewusst. Bei einem Vorhaben für ein Kindertheater in der Nachbarschaft befasste sie sich zum ersten Mal näher mit ihrer Herkunft. „Deshalb will ich jetzt andere Mädchen stärken, sich gegen Rassismus zu wehren", sagt die Abiturientin.

Mit diesem Ziel ist auch RomaniPhen vor rund fünf Jahren entstanden. Der Verein, zu Deutsch „Romani-Schwester", will vor allem Wissen vermitteln. „Über Sinti und Roma wurde schon so viel geschrieben und produziert", sagt Tayo Awosusi-Onutor, Mitbegründerin und Mitglied des Vorstands, am Telefon.

Romanklassiker, Opern, Liebesfilme, Fernseh-Dokus - selbst aktuelle Musikvideos auf populären Sendern und Kanälen erzählten scheinbar von ihrem Leben. „Es herrscht dabei ein vermeintliches Wissen über uns, das in Wahrheit mit Klischees und Vorurteilen gefüllt ist."

Estera Iordan, Teamleiterin des feministischen Romnja-Vereins RomaniPhen in Alt-Treptow. Foto: privat Kinder denken an Esmeralda aus „Der Glöckner von Notre-Dame"

Das Schubladendenken betreffe dabei Frauen, so wie hier Romnja oder Sintizze, noch mehr als Männer, sagt Awosusi-Onutor. „Fast alle kennen diese Bilder". Sie weiß das aus ihren Kursen mit jungen Menschen. Selbst kleineren Kindern falle oft die Figur der Esmeralda aus dem Zeichentrickfilm „Der Glöckner von Notre-Dame" als erstes zu dem Thema ein.

Von den echten Persönlichkeiten oder geschichtlichen Hintergründen der Sinti und Roma habe die große Mehrheit bis dahin jedoch gar nichts oder nur wenig erfahren. „Mit dem Verein wollen wir Gegenbilder schaffen, indem wir auch die anderen Wirklichkeiten abbilden", sagt die Germanistin.

Der vierköpfige Vereinsvorstand und die sechs Mitarbeiterinnen setzen dabei auch auf Bildung in den Schulen: Für diese stellen sie Materialien her wie eine kurze Geschichte der Sinti und Roma, ein Kriterienkatalog, der dazu helfen soll, festgefahrene Rollenbilder in Schulbüchern zu hinterfragen, oder ein Ausmalheft, das Sinti und Roma klischeefrei darstellt. So dürften Kinder ihre Herkunft „in einem neutralen oder positiven Kontext" erleben, erläutert Awosusi-Onutor. „Für viele unter ihnen ist das neu."

Tayo Awosusi-Onutor vom Vorstand des Vereins RomaniPhen. Kitty Kleist-Heinrich

Denn in der Regel begreifen Kinder ihren Worten nach „recht früh", dass sie wegen ihrer Abstammung öfter gehänselt werden oder andere Nachteile erfahren. Und lernen, von da an ihre Herkunft zu verbergen. „Wer mag ihnen das auch verübeln?", fragt Awosusi-Onutor.

Oftmals würden die eigenen Roma-Wurzeln auch von Erwachsenen weiter verschwiegen. Damit fehle es den Jugendlichen an Vorbildern, mit denen sie sich im Alltag identifizieren könnten - zumindest auf den ersten Blick. RomaniPhen soll ihnen deshalb auch als Wissensarchiv dienen.

In Jahreskalendern werden weibliche Persönlichkeiten vorgestellt

Der Verein will die Vorbilder, die in Wirklichkeit gar nicht wenige, nur wenig bekannt sind, zum Strahlen bringen. So werden in eigenen Jahreskalendern weibliche Persönlichkeiten vorgestellt, die sich als Romni oder Sintezza durch herausragende Leistungen verdient gemacht haben. Unter ihnen befinden sich zum Beispiel die Filmemacherin Melanie Spitta, die Auschwitz-Überlebende und Künstlerin Ceija Stojka oder die US-Schauspielerin Rita Hayworth.

Tayo Awosusi-Onutor kennt viele solcher Vorbilder. In ihrer Heimatstadt Karlsruhe ist sie mit zwei von ihnen aufgewachsen. Ihre Mutter, Anita Awosusi, ist als Publizistin und Bürgerrechtlerin für die Rechte von Sinti und Roma deutschlandweit bekannt. Ihr Vater ist der aus Nigeria stammende Soul- und Funk-Musiker Hope Awosusi. Awosusi-Onutor, die sich selbst als Afro-Sintezza bezeichnet, führt die Wege ihrer beiden Eltern weiter. Im Hauptberuf ist sie Sängerin geworden.

In ihrem Lebenswerk hat ihre Mutter als deutsche Sintezza auch die Erfahrung ihrer Familie als Überlebende des Holocausts verarbeitet. Auf Romanes heißt der Genozid „Porajmos". Es bedeutet wörtlich „das Verschlingen". Der Porajmos finde in Deutschland noch immer zu wenig Beachtung, sagt Awosusi-Onutor. Selbst im Schulunterricht blieben die 500 000 Sinti und Roma, die die Nationalsozialisten ermordet hatten, oft unerwähnt. Allein im Konzentrationslager im Berliner Stadtteil Marzahn wurden nach Angaben der „Stiftung Denkmal" rund 2000 von ihnen interniert und in den Tod geschickt. Mit den Zeitzeugen sterbe immer mehr auch die Erinnerung daran. „Die jungen Leute müssen aber davon wissen", sagt Awosusi-Onutor.

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Um die Community über Grenzen hinaus zu verbinden, organisiert der Verein bereits seit vier Jahren einen eigenen Veranstaltungsmonat. Der „Romnja Power Month" findet normalerweise im Frühjahr statt: vom Weltfrauentag am 8. März bis zum Internationalen Tag der Roma, der seit den 1990er Jahren am 8. April begangen wird. Im vergangenen Jahr startete der Aktionsmonat mit Konzerten, Vorträgen und Lesungen, Podiumsdiskussionen oder Filmaufführungen erstmals bundesweit.

Neben Berlin beteiligten sich daran auch Aachen, Göttingen und Karlsruhe. In diesem Jahr sollte die Tagungsreihe europaweit erfolgen. Wegen der Corona-Pandemie wurde der „Power Month" aber erst auf den Herbst und letztlich ins Internet verlegt. „Trotzdem halten wir weiter aktiv Kontakt zu unseren Partnern in anderen Ländern", sagt Awosusi-Onutor. Dazu gehörten etwa Rumänien, Serbien, Spanien, Großbritannien, Schweden oder die USA.

Die größte Minderheit in der EU

Nach Angaben des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma bilden Roma mit zwölf Millionen Menschen die größte Minderheit in der Europäischen Union. In Deutschland, wo sie seit mehr als 600 Jahren beheimatet sind, leben aktuellen Schätzungen zufolge rund 60 000 Sinti und 10 000 Roma mit deutscher Staatsangehörigkeit. Dabei ziehen es viele aus Angst vor Diskriminierung vor, in der Anonymität zu bleiben, wie der Zentralratsvorsitzende, Romani Rose, zum Gedenktag des Holocausts im vergangenen August sagte.

„Bevor ich Aktivistin wurde, konnte ich mich nicht dagegen wehren, wenn mich jemand mit dem geläufigen rassistischen Begriff beschimpft hat", sagt Estera Iordan. Mittlerweile mache sie jene Mitschüler, die so hetzten, darauf aufmerksam, wie viele Menschen wegen dieser Zuschreibung am Ende umgebracht worden sind. „Manche entschuldigen sich dann auch bei mir."

Ein weiterer Schwerpunkt des Vereins ist es, Mädchen und junge Frauen zu ermächtigen, sich rassistischen oder frauenfeindlichen Strukturen entgegenzustellen und aus einer Rolle als mögliches Opfer auszusteigen.

Das wird zum Beispiel anhand von Theatherspielen geübt: Da in klassischen Stücken die Frauenfiguren ihre Daseinsberechtigung oft auf dem Verhältnis zum männlichen Gegenpart begründen, sollten die Mädchen im Verein unter Anleitung einer Profi-Schauspielerin mehrere solcher Rollen nachspielen - wie die der Ophelia in William Shakespeares weltberühmter Tragödie „Hamlet".

Das Stück nahm allerdings einen anderen Ausgang. Denn die Jugendlichen stellten Fragen, die in eine emanzipierte Welt passen: „Was würde passieren, wenn Ophelia, anstatt Selbstmord zu begehen, sich von Hamlet löst und ein neues Leben beginnt?" - Nichts muss für immer bleiben, wie es ist.

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