Der Kanadier Charles Taylor gilt als wichtigster Sozialphilosoph der Gegenwart und als Vordenker des Multikulturalismus. Heute wird er 90 Jahre. Eine Würdigung.
Debatten über Identitätspolitik prägen unsere Gegenwart - wie schaffen wir es, in pluralistischen Gesellschaften eine gemeinsame Identität zu entwickeln, eine Kultur, die alle einschließt? Diese Frage hat den kanadischen Philosophen Charles Taylor Zeit seines Lebens bewegt.
Die Selbstdeutungen des Menschen sind für ihn dabei entscheidend: Der Mensch sei ein "sich selbst interpretierendes Tier". Wer die Selbstdeutungen des Menschen ändere, der ändere auch den Menschen.
Autonomie des Individuums
Taylor ergründet, wie der Mensch zu dem geworden ist, der er heute ist: In seinem Werk "Die Quellen des Selbst" arbeitet er heraus, wie sich seit Augustinus die Annahme durchgesetzt habe, dass die Autonomie des Individuums das Maß aller Dinge sei. So habe der Mensch in der Moderne verlernt, das "Gute" außerhalb seiner Selbst zu suchen - dabei sei dies die Grundbedingung menschlicher Identitätsbildung.
Eine Selbstdeutung mit Folgen: Denn wenn das Individuum Maßstab allen Erkennens ist, wird die Welt um uns herum als Mittel zum Zweck degradiert. Dadurch habe der Mensch vergessen, dass er erst durch die Anerkennung anderer seine Identität entwickle.
Wie die Identitätspolitik spaltet
Doch wie schaffen wir eine Kultur der Anerkennung zwischen Menschen, deren kulturelle Differenzen zunächst unüberbrückbar scheinen? Für Taylor gibt es etwas, das den Menschen verbindet.
So folge jeder Mensch intuitiv "moralischen Landkarten", Werten, die unser Handeln leiten. Diese könnten ganz unterschiedlich sein: Religion, Vernunft, Natur. Doch der Mensch habe die grundlegende Einsicht in das "Gute" vergessen.
Suche nach kollektiver Identität
Taylor rekonstruiert diese Quellen von Moral und Identität und gibt uns damit philosophisches Handwerkszeug an die Hand: Wenn wir erkennen, dass jeder Mensch intuitiv moralischen Landkarten folgt, können wir diesen auch als wertgebundenes Wesen anerkennen; wenn wir erst durch die Anerkennung anderer unsere Identität entwickeln, sind andere nicht mehr bedrohlich für unser Selbst.
Dieses Denken könnte Ausgangspunkt einer Suche nach einer kollektiven Identität sein, nach Werten, die wir teilen. Für Taylor Voraussetzung einer funktionierenden Demokratie. Denn die lebt von Beteiligung und Bindung, doch ohne einen starken Sinn für Identität lässt sich das nur schwer verwirklichen.
Charles Taylor - politischer Philosoph
Die Orientierung am Allgemeinwohl zeichnet seine Philosophie aus und auch sein Engagement in der Politik. Er ist Mitbegründer der sozialdemokratischen Partei Kanadas (NDP) und kandidierte in den 60er Jahren mehrmals für das kanadische Unterhaus.
Dabei unterlag er 1965 dem Liberalen Pierre Trudeau, Vater des heutigen kanadischen Premiers Justin Trudeau.
Durch Vielstimmigkeit zur eigenen Stimme finden
Für Taylor reicht liberale Toleranz nicht aus, er will, dass über unterschiedliche Werte gestritten wird und dass daraus etwas Neues entsteht. 2007 erarbeitet er in der von der Quebecer-Regierung eingesetzten Bouchard-Taylor Kommission Lösungen für das multireligiöse Zusammenleben.
Die Empfehlung: Kulturelle Unterschiede sollten noch deutlicher gemacht werden. So könne sich die Gesellschaft über unterschiedliche Werte verständigen und kollektive Identitäten entwickeln.
Durch Vielstimmigkeit zur eigenen Stimme finden, dazu möchte Charles Taylor uns befähigen. Der große Sozialphilosoph eröffnet Horizonte einer Welt, in der Vielfalt nicht als Bedrohung, sondern als Wert an sich verstanden wird.
Wie die Identitätspolitik spaltet
Der Kanadier Charles Taylor gilt als wichtigster Sozialphilosoph der Gegenwart und als Vordenker des Multikulturalismus. Jetzt wird er 90 Jahre alt.
"Die Demokratie ist anfällig für gewisse Dinge, die schiefgehen können, sagt Charles Taylor. Welche drei Dinge das sind, erklärt er im Interview. Taylor war zu Gast an der American Academy...
Zum Original