Cornelia Lohs

Journalistin und Buchautorin, Heidelberg

12 Abos und 5 Abonnenten
Artikel

Im Tal der Wasserfälle | Forum - Das Wochenmagazin

Wenn es etwas gibt, das man in Island im Überfluss findet, dann sind es Wasserfälle. Einige stürzen donnernd über gigantische Felswände im Hochland, andere liegen versteckt und sind kaum zugänglich. Zu den schönsten zählt zweifellos der Háifoss im Süden der Vulkaninsel.

Das Brautpaar steht gefährlich nah am Abgrund. Hinter ihm stürzt der mächtige Háifoss tosend in die Schlucht. Der Fotograf dirigiert die beiden noch näher an die Felskante heran und schießt ein Bild für die Ewigkeit. Regenbögen tanzen durch feine Sprühnebel und die Gischt. Islands dritthöchster Wasserfall am Rande des Hochlands ist eine beliebte Kulisse für Hochzeitsfotos. Vor allem deshalb, weil es hier bei Weitem nicht so überlaufen ist wie an den Wasserfällen, die von der Straße aus leicht zu erreichen sind. Bis auf das Brautpaar und sein Fototeam ist an diesem Tag kaum jemand unterwegs. Wer zum Háifoss will, darf holprige Schotterstraßen und Schlaglöcher sowie eine, wenn auch kurze, Wanderung auf unebenem und steinigem Weg nicht scheuen. Die Braut, die zitternd vor Kälte an der Felskante steht, trägt Wanderschuhe unter ihrem weißen, rückenfreien Brautkleid. Das Schild auf dem Boden, das vor dem Absturz in die Tiefe warnt, haben sie und ihr Angetrauter bereits überschritten.

Die Wassermassen donnern über eine steile Stufe (nach neuen Messungen) 128 Meter in die Tiefe. 7.000 Liter pro Sekunde. Sie gehören zum Fossá í Þjórsárdal, einem 43 Kilometer langen Fluss, der einem See im Landesinneren entspringt. Der Fluss wird 750 Meter oberhalb des Háifoss von Felsen in zwei Arme geteilt. So kommt es, dass in unmittelbarer Nachbarschaft ein weiterer Wasserfall in die Tiefe stürzt: Granni, vom isländischen Wort Nàgranni (Nachbar) abgeleitet, ist mit 101 Metern etwas kleiner, schmaler und nicht ganz so spektakulär. Unten, im Fossárdarlur, dem Tal der Wasserfälle, fließen die beiden Flussarme wieder zusammen. Der Fossá í Þjórsárdal stürzt ein paar Kilometer weiter über den neun Meter hohen Hjálparfoss und mündet kurz danach in die Þjórsá, dem mit 230 Kilometer längsten Fluss der Insel, der dem Gletscher Hofsjökull im Westen des Hochlandes entspringt.

Über dem Háifoss schwirrt eine Drohne. Ihr Summen wird von den tosenden Wassermassen übertönt. Sie gehört dem Fototeam, das mit dem Brautpaar unterwegs ist. Der Tag der Tage soll aus allen Perspektiven vor der Kulisse des gigantischen Falls festgehalten werden. Zur Erinnerung und für all diejenigen aus den Familien des Paares, die nicht dabei sein konnten.

Die Gegend ist ein beliebter Ort für Hochzeitsfotos

Der abgelegene Háifoss, bis Anfang des 20. Jahrhunderts ein namenloser Wasserfall, erhielt seinen Namen 1912 vom isländischen Geologen Helgi Pjeturss, der in der Gegend forschte. Er nannte ihn Háafoss, was übersetzt hoher Wasserfall bedeutet. Pjeturss war mit seiner Dissertation zur Geologie Islands 1905 übrigens der erste Isländer, der in diesem Fach promovierte - in Kopenhagen, denn die erste Universität Islands war damals noch nicht gegründet. Den benachbarten Fall bedachte sein Kollege, der Franzose André Courmont, mit dem Namen Granni. Die grau-braunen Gesteinsschichten rings um die beiden Wasserfälle wurden vor rund zwei Millionen Jahren aus Lavaströmen gebildet. Zu den herabstürzenden weißen Wassermassen bilden sie einen grandiosen Kontrast. Das Wetter ist klar, der Himmel könnte blauer nicht sein, der Wind ist eisig und mitunter heftig. Die Hochzeitsfotos und -videos sind im Kasten. Die Braut tritt sichtbar erleichtert von der Felskante zurück. Sie schlüpft fröstelnd in einen dicken Anorak, hebt das Kleid mit einer Hand bis zu den Knien an und marschiert,mit dem Bräutigam an der anderen, schnellen Schrittes Richtung Parkplatz. Sie muss völlig durchgefroren sein.

Am Horizont thront die 1.491 Meter hohe Hekla, die zu den drei aktivsten Vulkanen Islands gehört. Für die Isländer sind alle Vulkane der Insel weiblich - aufgrund ihrer Unberechenbarkeit, heißt es. Nach ihren verheerenden Ausbrüchen im 18. und 19. Jahrhundert trug die Vulkandame damals den Beinamen „Tor zur Hölle". Ihr letzter Ausbruch war im Februar 2000. Ebenso zahlreich wie Wasserfälle sind in Island Vulkansagen. Einer Sage nach versprach Sæmundur, der Gelehrte, der im 11./12. Jahrhundert tatsächlich existierte, einst einer Hexe in Sachsen die Ehe, hielt sein Versprechen jedoch nicht ein. Um sich zu rächen, schickte die Hexe ihm ein vergoldetes Kästchen nach Island. Da ­Sæmundur aber die Absicht der Hexe ahnte, ritt er mit dem Kästchen auf den Gipfel der Hekla und warf es in eine Felsspalte. Es heißt, von dort habe das Feuer der Hekla seinen Ursprung. Opfer des Ascheregens der Hekla wurde 1104 das wikingerzeitliche Gehöft Stöng, das mit dem Auto knapp 20 Kilometer vom Háifoss entfernt liegt. Überreste des Langhauses, einer Schmiede und eines Kuhstalls wurden 1939 freigelegt, ab 1974 rekonstruiert und in das zurückverwandelt, was sie einmal waren.

Einen Kilometer östlich von Stöng liegt die Schlucht Gjáin - eine Landschaft wie aus dem Märchenbuch. Ein Ort, zu schön, um wahr zu sein. Ein grünes Paradies in unberührter Natur mit zahlreichen kleinen Wasserfällen, Grotten, Bächen, die aus Felswänden quellen, Wildblumen und von der Natur geschaffenen Lavaskulpturen. Fast erwartet man, dass eine Fee aus einem der Büsche tritt, ein Troll aus einer Grotte lugt oder Elfen auf den Steinen im Wasser tanzen.

Zum Original