Die ökologisch ausgerichtete „Kratzdistel" in Frankfurt ist ein etwas anderer Schrebergarten. Ein Besuch.
Wo ist hier eigentlich der Weg? Was in anderen Schrebergärten akkurat in rechten Winkeln angelegt und penibel durch Zäune, Hecken und Markierungen voneinander abgetrennt ist, kann beim Kleingartenverein „Kratzdistel" schon mal für kurze Verwirrung sorgen. Bei einem Rundgang durch die „naturnahe Kleingartenanlage" an einem sonnigen Wochenende stößt Gabriele Thielmann auf zwei Jugendliche, die auf einer Liege und einer Decke im Gras sitzen - den Corona-Regeln entsprechend in gebührendem Abstand. Alessia und Nora schauen die ehemalige Vorsitzende der Gartengemeinschaft verdutzt an. Thielmann blickt sich um, und sagt: „Ach, hier ist der Weg?" Die Teenager nicken.
Manchmal ist es also auch für langjährige Mitglieder gar nicht so einfach bei den „Kratzis", wie Thielmann ihren Verein liebevoll nennt, die richtigen Pfade einzuschlagen. Und das ist durchaus gewollt. „Im Grunde ist das hier ein großer Garten", sagt die 62-Jährige. Um das geschätzte 1,6 Hektar große Gelände hinter dem Bockenheimer Friedhof gibt es zwar einen Zaun. Hier und da sind außerdem vereinzelte Abgrenzungen zu erkennen, die aber meist durch Bäume und Hecken gestaltet wurden. Sonst sind Umzäunungen nur an Gemüsebeeten zu entdecken, um gefräßige Kaninchen fernzuhalten. Zentral ist für die stellvertretende Vorsitzende des Vereins, Mechthild Wagenhoff, vor allem die ökologische Ausrichtung der Gartengemeinschaft, die sich vor fast drei Jahrzehnten zusammengetan hat und deren Name auf das „Hauptkraut" zurückgehen soll, das auf dem östlich des Niddaparks gelegenen Gelände gewachsen sei. „Wir verwenden keinen künstlichen Dünger und pflanzen nur einheimische beziehungsweise bodenständige Gehölze, die lange ortsansässig sind und sich klimatisch angepasst haben", sagt Wagenhoff. Dazu zählten Flieder und Holunder, Hasel und Berberitze, der Faulbaum und die Heckenkirsche. „Eine Forsythie ist ökologisch völlig uninteressant", sagt Thielmann. Denn die biete den „Bewohnern", also ansässigen Tieren wie Vögeln und Insekten, kaum Nahrung.
„Wir haben unheimlich viele Wildbüsche und -kräuter, um die Artenvielfalt zu fördern", berichtet Wagenhoff. Gemeinsam mit zwei Bockenheimer Freundinnen teilt sich die 69-Jährige eine gemeinsame Fläche. Dicke Bohnen und Salat haben sie schon gesät, Tomatenpflanzen zu Hause vorgezogen. Hinter einer Hecke bei Familie Pfannmüller, die an diesem Tag Weinreben zurückgeschnitten hat, wachsen Auberginen, Gurken und Zucchini. Gepflanzte Kräuter seien ihnen schon von der Wurzel her weggefressen worden, erzählt Johannes Pfannmüller. „Eine Spende an die Unterwelt", sagt seine Frau Alba und lacht. Beim Blick über das teils mit hohen Bäumen bewachsene Gelände ist kaum auszumachen, wo einzelne Parzellen beginnen und aufhören. „Jede Parzelle ist anders, das steigert den Erholungswert", sagt Thielmann. Offiziell sind es 38. Rund ein Viertel davon ist erst vor einigen Jahren dazugekommen und durch einen Rad- und Fußgängerweg von der „Alten Kratzdistel" getrennt. In Gruppen werden die knapp 40 Gärten bewirtschaftet, die jeweils über einen Geräteschuppen und eine Wasserpumpe verfügen. Möglichst wenig Boden soll auf dem Gelände versiegelt werden, daher die geringe Zahl der Hütten. Gepumpt wird mit Muskelkraft. Elektrizität und automatische Pumpen, wie in vielen Frankfurter Kleingartenanlagen vorhanden, gibt es bei den Ökogärtnern nicht. Eine Komposttoilette wird mit Holzspänen betrieben. An einer großen überdachten Tafel in der Mitte des Geländes kann man zusammensitzen und feiern. Normalerweise. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie bleibt dieser Bereich geschlossen. Auf einer Streuobstwiese stehen Apfel-, Birnen-, Mirabellen-, Quitten- und Walnussbäume.
Fast jeden Tag kommen die Freundinnen Alessia und Nora in den Garten. Erdbeeren und Rhabarber, Heidel- und Himbeeren wollen gegossen werden. Die Schülerinnen schätzen das stadtnahe Idyll. Als „Stressabbau" bezeichnet die 16-jährige Nora ihren Zeitvertreib in der Natur. Die 15-jährige Alessia sagt: „Immer wenn meine Mutter mit Kopf- und Bauchschmerzen in den Garten geht, kommt sie glücklich zurück." Dafür sorgt vielleicht auch ein bisschen, dass kaum Zäune den Blick über das grüne Areal versperren.