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"Wenn er leben will, muss er nach Deutschland" - DER SPIEGEL - Panorama

Corona-Erkrankte aus Italien "Wenn er leben will, muss er nach Deutschland"

In der Hochphase der Pandemie schickten Ärzte vier Covid-19-Patienten aus Bergamo zur Behandlung nach Leipzig. Nur einer von ihnen überlebte: Felice Perani. Hier erzählt er erstmals von seinem Kampf gegen das Virus.

Felice Perani, 57, liegt in einem Bett auf der Intensivstation der Uniklinik Leipzig und hält ein Tablet in den Händen. Er ist frisch rasiert, doch um seine Augen hat er große, dunkle Ringe. Hinter ihm sind ausgeschaltete Monitore zu sehen. Er erzählt dem SPIEGEL per Videocall von seinem Überlebenskampf der vergangenen Wochen.

Am 17. März habe Felice Perani plötzlich kaum Luft bekommen, den Notruf gewählt und dort eine Stunde und 20 Minuten niemanden erreicht: besetzt. Doch er hatte Glück, mehrmals, wie er sagt. Eine Arbeitskollegin, die ebenfalls für ihn anrief, sei durchgekommen und konnte einen Krankenwagen zu dem Haus in dem 3000-Einwohner-Ort Casnigo in der norditalienischen Provinz Bergamo bestellen, in dem der Informatiker mit seiner 85-jährigen Mutter lebt.

Chaotische Lage im Klinikum vor Ort

Noch im Krankenwagen, erzählt Perani weiter, habe er einen Sanitäter fragen hören, wo sie ihn denn überhaupt hinbringen sollten. In den Krankenhäusern in Bergamo nehme man seit Tagen niemanden mehr auf. Er bekam an diesem Abend einen Platz, im Ospedale Papa Giovanni XXIII. "Glücksfall Nummer zwei", sagt er.

Die Lage dort sei chaotisch gewesen: "Überall Menschen mit diesen Beatmungshelmen". Peranis Zustand verschlechterte sich. Am 23. März rief ein Arzt die Nummer zurück, die den Notruf gewählt hatte. Er fragte die Arbeitskollegin, ob sie einverstanden sei, wenn der Patient nach Deutschland gebracht werde. Sie könne das nicht entscheiden, habe sie dem Arzt gesagt, und dieser habe erwidert, dass es eigentlich gar nichts zu entscheiden gebe. Perani erinnert sich an einen Satz, den er hörte: "Wenn er leben will, muss er nach Deutschland".

Der Patient, der für den Transport der italienischen Zivilschutzbehörde infrage kam, durfte nicht zu krank sein, sonst wäre er auf dem Flug gestorben, aber auch nicht zu gesund, sonst hätte er in Bergamo bleiben können. Perani, das war sein Glücksfall Nummer drei, passte gerade so in dieses Profil.

"Wir haben ihn in einem wirklich kritischen Zustand übernommen und hatten große Sorge, dass er die ersten 24 Stunden nicht überlebt", sagt Sebastian Stehr, Direktor der Klinik für Intensivtherapie am Leipziger Universitätsklinikum. "Wir konnten Herrn Perani rasch stabilisieren. Sein Zustand verbesserte sich von Tag zu Tag." Auch wenn die anderen Erkrankten aus Italien in Leipzig nicht gerettet werden konnten, zeige Peranis Geschichte, dass es richtig gewesen sei, Patienten nach Deutschland zu holen.

Wie können Intensivbetten schneller bereitgestellt werden?

Es hätten noch mehr Patienten aufgenommen werden können, sagt Stehr gegenüber dem SPIEGEL. Es sollte Überlegungen geben, wie in Zukunft im europäischen Kontext schneller Hilfe bei Intensivkapazitäten zur Verfügung gestellt werden könne. "Rückblickend muss man sagen: Hätte man zwei Wochen vorher angefangen, hätte man die Situation zum Beispiel in Bergamo besser unterstützen können", so Stehr.

Für Perani kam die Hilfe zur rechten Zeit. Er sagt: "Sonst wäre ich tot. Ich weiß nicht, wie ich den Ärzten und Pflegekräften hier jemals dafür danken soll". Während er seine Erinnerungen schildert, kommen ihm mehrmals die Tränen. Die Mitarbeiter des Klinikums, mit denen er sich meist über Google-Translate verständigte, weil er nur Italienisch spricht, seien ihm ans Herz gewachsen, sagt Perani: "Sobald ich einen Schmerz verspürte, waren sie da." Er werde sie nie vergessen.

Große Vorfreude auf das Wiedersehen

Am 4. Mai, nach sechs Wochen Behandlung, sollte Perani das UKL verlassen und sich in der Reha Bennewitz erholen. Bei der Ankunft dort wurden Abstriche gemacht; von drei Tests fiel einer positiv aus. "Vermutlich dachte er: Geht das Ganze noch mal von vorne los?", sagt Sebastian Stehr. Perani musste zurück in die Uniklinik. Die Ärzte gingen von einem falschen positiven Befund aus - und so war es dann auch.

Perani weiß nicht, wann und wo er sich mit dem Coronavirus infizierte. Er sei vorsichtig gewesen, habe im Supermarkt schon Anfang März Mundschutz und Handschuhe getragen. Und dann kommt er auch noch auf seinen Glücksfall Nummer vier zu sprechen: Er hat seine Mutter nicht angesteckt. Über das Tablet, das man ihm im UKL gab, konnte er mit ihr skypen. Die alte Frau sei taub, konnte ihren Sohn so aber zumindest sehen. Perani sagt, er freue sich schon darauf, sie zu umarmen. Er habe sich in seinem Leben viel sozial engagiert, ist Präsident eines Kulturvereins, hat eine Theaterschule, einen politischen Debattierklub ins Leben gerufen und "vergessen, eine Familie zu gründen".

In drei Wochen darf Felice Perani zurück nach Casnigo, davor soll er in Sachsen noch eine Reha besuchen. Ein bisschen tue es ihm sogar leid, aus Deutschland fortzugehen und die Menschen, die ihm das Leben in Leipzig retteten, zu verlassen. In seiner Heimat, das habe er von Bekannten gehört, wolle man ihn feiern "wie einen Kriegsrückkehrer". Aber danach sei ihm nicht zumute: "Viele Menschen, darunter Menschen, die ich kannte, hatten nicht so viel Glück wie ich".

Anmerkung: In einer früheren Version fehlte versehentlich in einem Zitat von Sebastian Stehr das Wort "nicht". Wir haben die Stelle aktualisiert.
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