Das Publikum ist nicht auf seiner Seite. Als André Glenzer die etwa sieben Meter lange Brüstung in Richtung Bühne entlang schreitet, buhen die Briten ihn aus. Dabei gibt sich der Essener viel Mühe, um ihre Sympathie zu gewinnen: Er setzt sein „I love London"-T-Shirt in Szene, lächelt sympathisch und winkt mit dem Boxhandschuh selbstbewusst in die Menge. Doch sie feuern seinen Gegner an, Mike Botteley. Der ist Brite.
Es ist dem Publikum nicht zu verdenken. Bei einem internationalen Turnier wie diesem hält man schließlich zum Landsmann. Es ist Samstagabend, kurz vor 21 Uhr. Die Scala in London, normalerweise ein Ort, an dem Popkonzerte und Partys stattfinden, ist Austragungsort eines Sportevents der besonderen Art: einem Wettkampf im Schachboxen. Bei diesem noch relativ jungen Sport wird immer abwechselnd eine Runde Schach gespielt und eine Runde geboxt, bis zu elf Runden lang. Es gewinnt, wer den Gegner k.o. schlägt oder ihn schachmatt setzt. Für seinen Mittelgewichts-Kampf ist Glenzer extra mit seiner Familie aus Essen angereist. Es ist die Herausforderung, auf die er so lange hingearbeitet hat.
Seit eineinhalb Jahren boxt er. Noch einmal eineinhalb Jahre zuvor hat er sich mit Joggen und Tennis auf das Boxen vorbereitet. „Ich wollte körperlich fitter werden, da ich als IT-Unternehmer so viel Zeit vor dem PC verbringe", sagt der 37-Jährige. „Um mich für den Sport zu motivieren, hatte ich immer das Ziel vor Augen, einmal an einem Schachbox-Wettkampf teilzunehmen. Denn Schachspielen fällt mir leichter." Nun steht er tatsächlich im Boxring, nimmt Platz auf einem der wackeligen Klappstühle, die vor dem kleinen Tisch mit dem Schachbrett und der Zeituhr aufgestellt sind. Ihm gegenüber der vom Publikum gefeierte und bisher ungeschlagene Mike Botteley, Kampfname „The Bedforshire Bull". Nur sieht der so gar nicht aus wie ein Bulle. Aber eine übersteigerte Selbsteinschätzung scheint bei diesem Sport üblich. „Ich glaube, dass ich meinem Gegner körperlich überlegen bin. Ich bin größer und breiter", hatte Glenzer vor dem Kampf gesagt. Tatsächlich sitzen sich jetzt zwei Männer am Brett gegenüber, deren Statur relativ gleich ist: um die 1,80 Meter groß, schmal und schlank, nur wenige Muskeln. Hier ist körperlich niemand überlegen. Es könnte ein knapper Kampf werden.
Doch erst einmal geht es um den Scharfsinn am Schachbrett. Eine Schönheit mit viel Oberweite und wenig Höschen stöckelt durch den fünf mal fünf Meter großen Ring, präsentiert eine Karte: Runde 1. Es geht los. Glenzer hat die schwarzen Schachfiguren, darf erst als zweiter ziehen. Er benötigt etwas mehr Bedenkzeit als sein Gegner. Er muss aufpassen, denn wer die insgesamt zwölfminütige Zugzeit überzieht, verliert automatisch. Dennoch wird schnell klar: Hier sitzen zwei, die im Schach auf Augenhöhe agieren.
Nach vier Minuten völliger Versunkenheit ertönt eine Tröte. Schachspiel, Stühle und Tisch werden weggetragen. Glenzer schlüpft in seine Boxhandschuhe und erhält letzte Anweisungen von seinem Coach, den er erst einige Stunden zuvor kennen gelernt hat. Dann wird die erste Boxrunde eröffnet: Während Glenzer zuvor angekündigt hatte, im Schach aggressiv vorzugehen, ist es im Boxen Botteley, der genau das tut. Der 30-Jährige drängt den sieben Jahre älteren Deutschen in die Ecke, die Fäuste treffen dessen Kinn. Vor Glenzers Augen verschwimmt das Publikum zu einer groben Masse. „Box, box, box!", ruft sie. Aber daran kann der Deutsche gar nicht denken. Denn irgendwo auf dem Boden des Rings muss sie liegen: seine Kontaktlinse. Glenzer geht in Deckung, hält gegen die groben Hiebe. Drei Minuten dauert jede Boxrunde. Drei Minuten, die Glenzer irgendwie halb blind überbrücken muss. In der 60-sekündigen Pause zwischen Boxen und Schachspielen reicht ihm seine Frau eine neue Kontaktlinse in den Ring. Er sieht erleichtert aus.
Die Kontaktlinse ein- und die Boxhandschuhe abgesetzt geht es weiter. Glenzer wird klar, dass er seinen Gegner körperlich vollkommen unterschätzt hat. Das Schachspiel, es ist seine einzige Chance. Sein Gesicht sieht aus, als hätte es jemand in Wachs getaucht, so konzentriert ist er. Der Kommentator in Schlips und Smoking, ein britischer Meister im Schach, ist begeistert: „Goodmove!" und „Excellent chess!" ruft er ins Mikrofon. Durch die dicken Kopfhörer, die Glenzer trägt, kann er ihn nicht hören. Aber er merkt auch so, dass er seine Figuren gut positioniert hat. Wie wird er sich selbst in der nächsten Boxrunde positionieren?
Glenzer teilt ein paar Schläge aus, obwohl seine Kraft langsam nachlässt. In der nächsten Schachrunde gelingt es dem Essener, Botteley Schach zu setzen. Aber er hat keine Zeit, dem nächsten Zug einen Gedanken zu schenken, da wieder Boxen angesagt ist. „Ich denke gerade nur darüber nach, wie ich den nächsten Atemzug machen soll", sagt er. Auch seiner Frau fällt das Atmen schwer. Nadine Glenzer steht neben dem Ring, die Hände vors Gesicht geschlagen. „Hau drauf! Los, gib alles!", schreit sie, wie eine Mutter, die ihren Jungen beim Fußballspiel anfeuert. „Mach ihn fertig!" Doch ihr Mann muss einiges einstecken. Wieder sieht er verschwommen, diesmal aber, weil sein Gegner ihn stark am Kopf getroffen hat. Durchhalten. Er muss diese Boxrunde überstehen. Er muss es wieder ans Schachbrett schaffen. Seit seinem fünften Lebensjahr schiebt er Dame, Bauer und Turm auf dem Brett umher. Es ist seine Stärke.
„Chess, chess, chess!"Das Publikum erkennt dies. Auf zwei Leinwänden können die knapp 800 Leute verfolgen, wie die Figuren auf dem Schachbrett stehen. „Chess, chess, chess!", rufen sie jetzt und recken ihre bierbefüllten Plastikbecher in die Höhe. Man mag kaum glauben, dass ein Jahrhunderte altes Brettspiel Auslöser ihrer Begeisterung ist. Brite Botteley hingegen schaut besorgt. Er scheint zu wissen, was ihm in dieser siebten Runde blüht. Glenzers zwei Türme bewegen sich gefährlich auf seine Abwehr zu. Schachmatt. Glenzer gewinnt. Deutschland gewinnt.
Wenige Minuten später sitzt Glenzer im Umkleideraum, der nur durch einige Bahnen dunklen Stoffs vor den Blicken der Menschen an der Bar geschützt ist. „Ich bin fix und fertig." Er nimmt einen Schluck Wasser aus einer Flasche. „In der nächsten Zeit erstmal nur noch Schach", sagt er, die Unterarme auf die Knie gestützt, nach Luft ringend. Doch dann fügt er stolz hinzu: „Das Publikum hat ab der vierten Runde meinen Namen gerufen." Seine Taktik mit T-Shirt, Lächeln und Winken ist nicht aufgegangen, aber seine Taktik im Schach hat das Publikum überzeugt. The winner takes it all.
Claudia Hamburger