Clara Ott

Journalistin & Buchautorin, Berlin

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Artikel

Jahr, ich will!

Liebe Mädchen und verehrte Jungs, ich wünsche euch wirklich, dass ihr in diesen Tagen nicht voll Reue oder Groll auf die vergangenen Monate schaut. Dass ihr kein Stechen im Herz bekommt, wenn ihr an gewisse zwischenmenschliche Begegnungen, an schmerzhafte Streits oder zehrendes Warten auf bis heute ausgebliebene Antworten denkt. Hakt alles ab, lasst los, akzeptiert, dass dieses Jahr 2014 nicht in eure Annalen der Superjahre eingehen wird. Zumindest war es für die meisten in meinem Freundeskreis ein Jahr harter, erwachsener Entscheidungen. Es wurden Kinder geboren, Eizellen eingefroren, Ehen geschieden, Eltern beerdigt, Jobs gekündigt, Städte verlassen, Kredite beantragt, Mietsummen zusammengekratzt und Träume verabschiedet.

Vielleicht war dieses Jahr nichts als eine riesengroße Lehre und somit das Jahr der Erkenntnis, weil wir alle - ganz gleich ob wir suchende Endzwanziger oder desillusionierte Enddreißiger sind - eines gemeinsam hatten und haben: Wir wollen etwas von diesem Leben! Und das geht weit über Whatsapp-Häkchen, iPhone 6, Thermomix oder eine BoConcept-Couch hinaus.

Die R.I.P.-Generation

Unsere Generation ist begeisterungsfähig und wir wollen uns einbringen, etwas bewirken und lange in Erinnerung bleiben, nach einer Lebensdauer wie der von Udo Jürgens und mit einem tagelangen R.I.P.-Trauerkanon bei Facebook! Bis es soweit ist, möchten wir das Allerbeste aus unserem Leben machen, einen schönen Partner an unserer Seite wissen, einer sinnvollen Arbeit nachgehen, einen loyalen Freundeskreis aufbauen und pflegen und uns nachhaltig und gewissenhaft ernähren und kleiden. Oder?

Wir wollen jedoch - anders als unsere Großeltern und Eltern - nicht irgendwann auf ein gutes Leben zurückschauen, sondern jetzt schon jedes einzelne unserer gelebten Jahre als super in Erinnerung behalten. Auch daher sitzen wir in diesen Tagen leicht unruhig herum, resümieren und reflektieren und schmieden Pläne für ein noch fantastischeres 2015 und überlegen, was verbesserungswürdig an unserem Dasein wäre. Ich will das alles nicht verurteilen, denn ich selber hoffe auf ein Knaller-Jahr, nachdem das aktuelle ein sehr zehrender Zeitraum für mich war. Die Zukunft MUSS eben einfach immer noch besser werden, wir Menschen funktionieren so. Weil wir im Gegensatz zu Tieren Hoffnung und Endlichkeit kennen und so dank einer Mischung aus Tagträumen und Realismus dem Rest unseres Lebens entgegen blicken können.

Wieso wir Deadlines brauchen

Denn leider ist es ja so: Wir alle brauchen Deadlines, Neuanfänge, Countdowns, wiederholende Zyklen und permanente Erinnerungen an das Sterben, um uns strukturiert an der individuellen Lebenslinie entlang hangeln zu können. Meldungen über Flugzeugabstürze, Tsunamis oder Schießereien in Shoppingmalls berühren uns leider mehr als der Ukraine-Konflikt, versunkene Flüchtlingsboote oder Ebola-Kranke, weil wir eher in einem Flugzeug sitzen oder einkaufen gehen, statt uns mit Auswanderung oder Annektierungen beschäftigen zu müssen. Ja, wir haben verdammtes Glück gehabt in diesem Jahr.

Wir haben aber trotz unserer Luxusprobleme viel Gutes getan. Wir haben fleißig für die Verbreitung der ALS-Ice Bucket-Challenge gesorgt. Wir haben unsere weltweit bejubelten Jungs in Brasilien angefeuert, die unser Heimatland in gutes Licht gerückt haben. Wir haben brav Artikel über Discount-Fashion wie Primark gelesen und immerhin ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn wir bewusst am falschen Ende gespart haben. Wir haben uns durch fremde Betten getindert, haben Stunden mit dem wahllosen Herumklicken bei Facebook verplempert, haben unsere Lebern mit literweise Alkohol durchspült und Sonntage nutzlos mit Nichtstun herumgekriegt.

Ich wage zu behaupten, dass wir alle über sehr viel Freiheit verfügen. Trotz Kind, trotz Kredit, trotz allem. Was uns jedoch am meisten am glücklichen Leben hindert sind Ängste, unterdrückte Konflikte und Gedanken. In Zeiten des islamistischen Terrors und der Brandherde in der Welt sitzen wir Zuhause und terrorisieren uns selbst. Wir strafen uns mit miesen Affären und Dates ab, vergeuden Zeit mit dem Formulieren von digitalen Lügen oder verschönern unser Dasein mit Filtern und gesellschaftlich anerkannten Foltermethoden wie Diäten, Marathons oder Waxings.

Udo und die Platinsanduhr

Fuck it. Niemand von uns weiß, wie viel Sand noch durch seine Sanduhr rieselt. Der große Udo Jürgens erklärte vor zwei Jahren, in seiner habe sich anfangs Sand befunden, der im Laufe seines Lebens zu Silber und Gold geworden sei. Nun sei er bei Platin angelangt, wohl wissend, dass nicht unendlich viel Platinsand folgen würde. Da war er bereits 78 Jahre alt und hatte natürlich leicht reden, weil er schon da auf ein sehr erfülltes Leben blickte, wenngleich das mit der Liebe niemals so richtig hingehauen hatte. Er sei, sagte er oft mit schelmischem Schulterzucken, eben ein guter Liebhaber gewesen, aber ein schlechter Ehemann. Bei all den Versuchungen des Lebens habe er eben nie widerstehen können. Treue, so Udo Jürgens, sei nur etwas für Menschen, denen sich keine Gelegenheiten zur Untreue böte. Was irgendwie unmoralisch klingt war nichts als pure Wahrheit und eine innere Gelassenheit, die er entwickelt hatte, um mit seinen Schwächen Frieden zu schließen. Falsch ist daran nichts, weil er immer offen und authentisch darüber geredet hat. Deswegen ist er ein Vorbild für alle, die sich nicht verbiegen und in soziale Schubladen pressen wollen, nur, weil Treue und Fürsorge anerkannte Werte sind und uneheliche Kinder und Fremdgehen verpönt.

Keine Sorge, das hier soll keine Hommage an Udo Jürgens werden. Dank meiner Mama besitze ich zwar einige seiner Schallplatten, aber er dient hier lediglich als wunderbares Beispiel unserer ständigen Hin- und Hergerissenheit zwischen Leben und Lügen, zwischen Gegenwartsgroll und Zukunftsvisionen. Dein 2014 war vielleicht gar nicht so schlecht wie meins, denkst du und fragst dich, wieso ich hier so einen Aufriss mache. Weil bald der Jahreswechsel kommt, die Chance auf Tabula Rasa! Weil wir alljährlich Panik vor dem Verpassen der perfekten Silvestersause haben und doch insgeheim die wahre Panik unterdrücken. Die nämlich, dass das ganze Jahr nichts als eine versäume Chance war. Dass wir auf mehreren Hochzeiten tanzen wollten und am Ende nichts erlebt haben. Dass wir ständig auf dem Sprung wie von einem Club zum nächsten waren, wie in der eisigen Silvesternacht immer von einem Highlight zum nächsten gehüpft sind, süchtig nach Anerkennung, dem nächsten Flirt, aufregenderer Gesellschaft, besserer Musik und köstlicheren Drinks.

In vielen Ländern wird Silvester „New Year's Eve", Neujahrsnacht, genannt. Es ist die Nacht, in der uns Menschen von einem Kalenderblatt suggeriert wird, dass alles neu und somit alles wieder möglich sei. Dass unser Leben an einem magischen Wendepunkt angelangt ist, wieder einmal, und wir Loslassen und von vorne beginnen können. Doch das ist nichts als eine Lüge. Es gibt keinen Neuanfang für uns. Wir sind mitten drin. „Mitten im Leben" war der Titel von Udo Jürgens Konzertreise. Und wir alle stehen hier, vielleicht berieselt von weißem Pulverschnee, ganz sicher berieselt von Sand, ganz gleich welche Couleur.

Alles wird gut.

Lebt, liebe Mädchen und liebe Jungs. Lebt so, als gäbe es kein Morgen mehr, aber vergesst nicht, wie ihr in Erinnerung bleiben wollt. Damit meine ich nicht, wie euer Facebookprofil aussehen soll, wenn ihr Udo Jürgens in den Himmel folgt. Ich meine damit, auf was für ein Leben hier zurückblicken wollt. Es mag altklug klingen, aber immerhin werde ich Ende Januar auch fünfunddreißig. Lasst euch von einer ewigen Single-Frau ohne Freund, ohne Kinder und ohne Kreditwürdigkeit sagen, dass das Leben immer lebenswert ist. Weil wir gesund sind, weil wir Freunde und eine Familie haben, weil wir frei und klug und witzig sind. Weil wir Hoffnung in uns tragen und Fröhlichkeit und viele Chancen, etwas in diesem Leben zu bewirken. Wir alle können täglich Sinnvolles tun oder aber Stunden ziehen lassen. Ja, diese Woche wechselt ein Jahr auf ein neues, auf den Dezember folgt der Januar. Aber ihr bleibt, wie ihr seid. Es sei denn, ihr nutzt diese Zeit, um euch endlich aufzuraffen und etwas aus eurem Leben zu machen. Und damit meine ich nicht, euch am 31. Dezember vorbei an Böllern zur nächsten Party zu begeben.

Euer Leben sollte nicht nur online lebenswert erscheinen, sondern sich in Momenten des Alleinseins lebenswert anfühlen. Lebt! Liebt! Vor allem euch selbst.

Headerfoto: Mateus Lunardi Dutra via Creative Commons Lizenz!

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