Clara Ott

Journalistin & Buchautorin, Berlin

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Verloren in der Dating-Welt | Ihr Online-Magazin - clack.ch

Professionelle Onlinedating-Plattformen mit ihren ausgeklügelten Matching-Systemen, hohen Abopreisen und grossen Versprechen sind vielleicht nicht Ihre Sache. Zu teuer, zu nerdig, zu unromantisch, zu irgendwas. Beziehungsunfähige Singles unter Ihnen meiden solche Portale, die Fest-Liierten und ein Haufen anderer Menschen, ob nun Seitensprüngler oder Suchender, sowieso. Wer gerade niemanden kennenlernen will, der meldet sich bei so was eben nicht an. Genau da beginnt das Problem. (Lesen Sie auch: Facebook kann Ihre Ehe gefährden.)

Denn wir alle - die Suchenden, die Liierten, die Einsamen, die Geselligen, die Beziehungsängstlichen, die Torschlusspanischen, die Fremdgeher und die Flirter unter uns - wir alle sind Mitglieder in der billigsten, effektivsten und gefährlichsten Onlinedating-Plattform der Welt: Facebook.

Im Gegensatz zu verpixelten Fotos auf klassischen Dating-Portalen, wo man erst Freigaben braucht, um Fotos sehen zu können, erlaubt uns die virtuelle Suche bei Facebook alles, wonach unsere Neugier giert: unverbindliches Gucken, heimliche Profilbesuche, das Herunterladen von Fotos, hemmungsloses Chroniknachlesen der Vergangenheit, das Checken von Freundeslisten (weil der Freundeskreis ja immer eine Menge aussagt!), Überprüfen der nächtlichen Aktivität, geografisches Einchecken an Flughäfen und in Szenerestaurants. Sie wissen, was ich meine. (Lesen Sie auch: Facebook-Updates im echten Leben.)

Facebook-Recherchen noch auf der Toilette der Bar

Genau. All das, was Sie tun, sobald Sie jemand Neues kennenlernen. Auch, wenn man sich an einer Bar begegnet ist und "nur" die Telefonnummer getauscht hat, so wissen Sie doch sehr wahrscheinlich den Nachnamen dazu. Und noch im Gin-Tonic-Rausch zu Hause werden Sie den Namen sofort bei Facebook eingeben, wenn nicht sogar schon auf der Toilette der Bar. Sie wollen die Existenz dieses Menschen via Facebook-Siegel bestätigt wissen.

Sie werden erleichtert seufzen, wenn Sie feststellen, dass Sie "3 gemeinsame Freunde" haben. Das ist ein gutes Zeichen. Juhu, diese Stadt ist eben ein Dorf und wie praktisch, weil Sie gleich mal einem dieser drei Freunde schreiben könnten, dass Sie - haha, welch lustiger Zufall - heute Abend einen gemeinsamen Freund kennengelernt haben. Ist er liebenswert, Single und knutschbar oder doch eher ein Idiot? Aufhören, damit. Sofort.

Sie schliessen jetzt vielleicht den Facebook-Messenger und den Browser auf Ihrem Smartphone, aber Sie speichern diese neue Nummer. Sie aktualisieren Ihre Whatsapp-Kontakte und freuen sich tierisch, dass Ihr neuer Kontakt ebenfalls diese (In-den-Wahnsinn-treibende-Kontroll-)App nutzt. Wie praktisch, weil Sie ja sparen müssen und heute niemand mehr "richtige" SMS schreibt.

Echtes Engagement. Zur Post gehen. Verbindlichkeit. Echte Adresse. Das reale Leben, handschriftlich. Ja, echte Briefe kommen irgendwann bei Ihnen oder dem anderen an. Niemand sieht, wann dieser Zeitpunkt ist, und niemand bekommt mit, wann der andere sie liest! Wie bei der SMS früher, als man noch löschte, feilte und abkürzte, um alle Gedanken unterzubringen. Das war, wie einen Brief zu schreiben. Sich hinsetzen. Nachdenken, sich bemühen. Damals.

Inflationäres Herumgeflirte zerstört unsere Romantik

Und nun? Wo Ihnen dieses Häkchen den Puls in Millisekunden höher fahren lässt, weil dieser neue Mensch gerade online ist und weil er Ihnen schreibt und weil Sie sehen, dass Ihre Nachricht tatsächlich gelesen wurde und sofort jemand darauf antwortet... Oh, Himmel! Ein technisches Wunderwerk, ein Teufelswerkzeug, ein krank machendes, Romantik zerstörendes Ding. Ihr Smartphone. Ihr Handeln. Ihr Umgang mit den Möglichkeiten des virtuellen Flirtens.

Wir müssen nicht noch weitere Vorstellungen für Sie entwerfen, weil das eh keine theoretischen Szenarien sind, sondern der Alltag. Wir alle surfen moralisch bedenkenlos auf Profilen verheirateter, wir chatten nachts gedankenlos mit eheunglücklichen Arbeitskollegen, wir schicken hier und da dank Flatrate riesige Dateien voller Badewannenfotos an Menschen, die eigentlich liiert sind und die wir eigentlich nicht ernsthaft in Betracht ziehen, aber hey, ist doch nur Facebook. Keine richtige Dating-Seite. Haha!

Lassen Sie Ihr virtuelles Ego nicht am Flirt teilhaben

Alles ein riesiger Flirtspass. Wir stupsen, mailen, chatten, surfen, stalken, gucken, knutschen virtuell, mailen über unsere Sehnsüchte, wir schicken Lieblingsvideos und kluge Artikel. Wir beweisen unsere Schlagfertigkeit und unseren Witz in Posts, schönen unsere Selfies, wogegen so mainstreamige 100 Matching-Fragen nämlich reiner Hohn wären. Es zählt nicht, ob wir nachts gern mit offenem Fenster schlafen, Nichtraucher sind oder Akademiker. Alles, was zählt ist: dass wir online sind. (Lesen Sie auch: Die Facebook Falle.)

Für einen endlich wieder lässigen Umgang mit der grössten, günstigsten und gefährlichsten Dating-Plattform der Welt sollten Sie sich wieder bewusst machen, dass Sie Teil davon sind und Versuchungen nur ein Fingertippen entfernt liegen. Näher als Ihr Partner im Ehebett neben Ihnen. Auch, wenn Sie "eigentlich glücklich verheiratet" sind. Auch, wenn Sie "niemals jemanden virtuell kennenlernen" wollen. Auch, wenn Sie "Online-Dating scheisse" finden. Auch, wenn Sie gebrandmarkter Single mit dem Vorsatz auf monatelange Dating-Pause sind.

Verschwenden Sie Ihre Energie nicht

Wir sind alle, dank Smartphones, dank Facebook, dank Flatrates, grossartige Meister darin, unsere romantischen Sehnsüchte zu zerstören. Nur ein letztes Szenario: Erinnern Sie sich noch an die Zeiten, wo Sie drei Tage sehnsuchtsvoll gewartet haben, bis endlich, endlich, endlich wieder ein Lebenszeichen von diesem neuen Menschen kam? Genau. Warten Sie mal wieder. Lassen Sie auf sich warten. Und verschwenden Sie Ihre Energie, Ihre Zeit und Ihre Hoffnungen nicht an Menschen, die nicht wie Sie voller Leidenschaft und Neugier darauf brennen, endlich eine neue Liebe aufzuspüren. Das werden Sie. Offline.

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