Früher, auf dem Gymnasium, habe ich mir oft vorgestellt, wie das wohl wäre. Dass ich in der großen Pause mitten auf dem Schulhof stehe, umringt von meinen lachenden Freundinnen, beschützt und fröhlich. Bis einer der großen, älteren Jungs auf uns zukäme. Wir kichern unruhig und leicht nervös und die Cliquensprecherin geht mutig auf ihn zu, den zweitbegehrtesten Jungen der Schule. Er wird sie etwas fragen, sie sofort erröten, eigentlich wir alle. Vor allem ich, aber ich würde nur erleichtert seufzen und lässig nicken. Dann schlendert der zweitbeliebteste Junge zurück zu den lässigen Jungs in der Raucherecke und der beliebteste, hübscheste Junge der Schule würde mir von dort zuzwinkern. Er will mit dir gehen!, kreischen meine Freundinnen und fallen mir um den Hals. Ja, so ungefähr stellte ich mir das immer vor. Dass die besten Freunde als loyale Fürsprecher und Liebesvermittler zwei offensichtlich und völlig unaufhaltbar Schwärmende wie uns verkuppeln, einfach so.
Ja, passierte mir das? Nein, leider nie. Vielleicht war es eher so, dass ich stets eine der kreischenden Freundinnen war, die einer Schwärmenden um den Hals fiel und sie zum neuen Freund beglückwünschte.
Dann, mit Anfang 20, habe ich mir oft vorgestellt, wie das wohl wäre. Dass ich in diesem Online-Forum für neue Leute jemanden finde, der mit mir ins Kino und danach durchs Leben gehen will. Wir würden uns sehnsüchtige Nachrichten schreiben und für teures Geld telefonieren und dann pünktlich vor dem Kino treffen. Wo wir uns drei Stunden „Herr der Ringe" ansähen und irgendwann Händchen haltend kuscheln würden. Vielleicht sogar das Kino vorzeitig verlassend, uninteressiert an Hollywood, weil wir in unserem eigenen Film sein würden. Es gab erste, displaydunkle Handys, aber SMS waren teuer und so verschuldeten wir uns heillos, weil wir nach dem ersten Date voller Sehnsucht penibel formulierte 164-Zeichen verschickten. Es würden mehrere Dates folgen und aus Liebes- , aber auch aus Kostengründen, zögen wir bald zusammen. Unaufhaltbar, diese zaghaft begonnene Online-Liebe, irgendwo in einem unübersichtlichen Community-Forum, wo wir uns fanden, um uns gut zu finden. Ja, passierte mir das? Nein, leider nur ansatzweise. Vielleicht sahen wir den ganzen Film, schweigend und ohne Körperkontakt und uns danach niemals wieder, auch nicht online, weil ich mein Profil löschte.
Dann, in Zeiten meines ersten Blackberries, als iPhones noch überschätzt waren, habe ich mir oft vorgestellt, wie das wohl wäre. Dass ich diesen Mann, der das rote Lämpchen permanent zum Blinken brachte, abends in der Bar treffen würde. Ich trüge mein schönstes Kleid, schwindelerregende High-Heels, hätte im leeren Magen nur Gin Tonic und in der nervös-zitternden Hand eine Zigarette. Ich wäre mit hübschen Freunden in der Bar, alle an der Theke drapiert, wenn er den Raum betreten würde, groß, alle überstrahlend, sofort durch das Gedränge auf mich zukommend. Er würde mich direkt und leidenschaftlich auf den Mund küssen, obwohl wir uns bisher nur nachts zum Sex getroffen hatten, aber nun nähme er mich eben als Frau wahr, die er eigentlich inständig liebte. Er würde seinen Arm um meine Taille legen, mich auf die nackte Schulter küssen, meinen Freunden die Hände schütteln und uns allen neue Drinks bestellen. Der Abend würde traumhaft ausgelassen sein und das erste Mal seit Wochen würde ich das blinkende rote Licht in meiner Handtasche total ignorieren, vielleicht sogar den Blackberry ausschalten. Weil der Mann aus dem Telefon hier war, ganz nah bei mir, nicht nur im Herzen, sondern im Arm. Ja, passierte mir das? Nein, leider nicht ganz. Vielleicht existierte der Mann und vielleicht befand er sich auch mit mir in der Bar, aber niemand außer uns ahnte, dass wir uns nachher küssen würden. Nur mein blinkender Blackberry wusste, dass er wieder mal Lust auf Vögeln hatte.
Jetzt, gefühlsverwässert im Social-Media-Datingrausch, stelle ich oft fest, wie das ist. Dass ich nur ein neues, schönes Foto von mir bei Facebook hochladen muss und in Sekundenbruchteilen Nachrichten und Zuspruch erhalte, von Fremden und Bekannten und gar Ex-Lovern. Ich brauche keinen Finger krümmen, nur Touchpads streicheln. Es sind meine täglichen, zarten Berührungen auf dem einzig wahren Sex-Toy von heute, dem iPhone. Zu jeder Uhrzeit sorgt es binnen Minuten für Sex, Dates oder verruchte Chats, im Zweifel habe ich Nacktofoto und Videos gespeichert oder vertreibe mir die Zeit mit dem Surfen auf Nachrichtenwebsites. Chats, Messenger, Online-Status, Posts, Links, Kommentare, all das schart mir haufenweise Männer um mich, als stünde ich wie damals in der großen, nie endenden Pause auf dem Schulhof. Ich fühle mich wie in meinem schönsten Lieblingskleid, auf schwindelerregend hohen Schuhen, drapiert an eine virtuelle Theke lehnend, lasziv am Gin Tonic nippend, dem Geschehen mit diffuser Wahrnehmung folgend. Spannender als der erste „Herr der Ringe", weil Dutzende Herren im Ring stehen und um mich werben oder ich ihnen beim Werben um andere zugucke. Natürlich will der eine nur vögeln, der andere nur ins Kino und ein anderer ist schüchtern und schickt statt dem besten Freund Businessfragen vor. Ja, oft fühle mich wie in einer heillos überfüllten Bar mit wenig Sauerstoff und mehr attraktiven Männern, als ich verarbeiten kann. Und manchmal fühle ich mich kritisch beobachtet wie auf dem Schulhof, skeptisch beäugt von anderen Frauen, unwohl an meinem Kleid nestelnd, errötend und sich hinter anderen Liebesgeschichten versteckend. Aber sehr oft erwische ich mich einsam und schweigsam im Bett oder alleine in einem Café, starre auf den weißleuchtenden Bildschirm, seufze und denke an meinen geliebten Blackberry, wie er mir, nicht mal zur Hälfte abgezahlt, in einer alkoholreichen Nacht geklaut wurde. Ich denke sehnsüchtig an die Zeiten des bewussten SMS-Formulierens, weil meine Handyrechnungen stets explodierten. Ich denke zurück an die Zeiten, wo ich nicht via Facebook wusste, wann er zuletzt online war oder welche Freunde er um sich scharrt. Ich denke an damals, wo es keine Location-Dienste gab und jemand einfach in die Bar kam oder eben nicht. Wo man nicht gemeinsam online eincheckte oder sich auf Fotos taggte oder via Dating-Apps erst matchen musste. Damals, als Worte wie poken, liken und adden noch Lacher hervorriefen, iPhones albern waren, Smartphones und die ersten Apps lächerlich schienen. Ja, passiert mir das? Nein, es passiert uns allen. Vielleicht können wir nie wieder ins reine Offline-Dating und in ein Leben ohne virtuelle Kontrolle zurück, aber ganz sicher merken wir alle, wie unsere emotionalen Akkus schwächeln, wie unsere Gefühle nur noch unsichtbar in einer Handtasche blinken. Wir alle wissen genau, wie wir Gefühlsregungen clever via Touchpads inszenieren und steuern können und müssen uns dabei leider eingestehen, dass es lange, sehr lange her ist, seit wir mit unseren frierenden, verhornten Fingerkuppen zuletzt etwas wahrnahmen, was wirklich so war, wie in unserer Vorstellung von Liebe.
Headerfoto: Seth Rader via Creative Commons Lizenz!