Als Ute Jusciak am 9. November 1989 um 23.45 Uhr mit dem Moped von der Spätschicht nach Hause fuhr, ahnte sie noch nichts von dem, was in dieser Nacht geschah. Angekommen in ihrer Wohnung in Jena, schaltete sie den Fernseher ein. Schwarz-weiß flimmerten die Bilder über den Schirm: Menschen, die auf der Berliner Mauer tanzten, sich umarmten, vor Freude weinten. „Die Ereignisse überschlugen sich", sagt sie, und auch heute, genau 25 Jahre später, hört man die Aufregung in ihrer Stimme. Sofort stieg Jusciak wieder auf ihr Moped und fuhr zurück zu der Arbeitskollegin, von der sie sich eben noch verabschiedet hatte. „Wir lagen uns einfach nur in den Armen", erinnert sie sich an jene Nacht.
Sehnsucht nach dem WestenDamals war Jusciak 23 Jahre alt, arbeitete als Feinoptikerin in Jena und war vielleicht der größte Howard-Carpendale-Fan dies- und jenseits der Mauer. Einmal „Spuren im Sand" über das verbotene RTL-Radio gehört, und schon war es damals um sie geschehen. „Ich wollte ihn einfach sehen", erzählt sie.
Das ging natürlich nicht: Der Eiserne Vorhang stand zwischen Jusciak und Carpendale. Zumindest etwas näher kam sie ihrem Idol schon mal, als die Jenaerin eine Westzeitschrift in die Finger bekam. Dort las sie eine Anzeige: Carola aus Isny hatte inseriert, wollte einen Teil ihrer Sammlung mit Carpendale-Artikeln verkaufen.
„Ich wusste nicht mal, wo Isny liegt. In der Schweiz, in Österreich?" Doch die Bande waren geknüpft. Zeitungsartikel, Kassetten, Autogrammkarten fanden jetzt ihren Weg nach Jena. Mit dem Kontakt wuchs auch die Sehnsucht nach dem Westen - und nach Howard Carpendale.
Mauerfall kam Flucht zuvorDie Unzufriedenheit über das System, in dem sie lebte, beschlich Jusciak Ende der 80er Jahre. „Es gab nur noch Grundnahrungsmittel. Du hast nicht mal mehr eine Apfelsine bekommen", erzählt sie. Schon Monate vor dem Mauerfall demonstrierte Jusciak - wie viele andere auch - gegen die DDR, Wasserwerfern und Knüppeln der Polizei zum Trotz. „Unvorstellbar, was da letztendlich für eine Macht vom Volk ausgegangen ist, was wir bewegt haben", sagt sie heute.
Für Jusciak war im Oktober 1989 endgültig klar: Sie wollte weg. „Ich saß auf gepackten Koffern, hatte ein Visum und wollte über Ungarn abhauen." Das Ziel: Wangen im Allgäu. Denn die Brieffreundin war inzwischen dorthin gezogen. Doch der Mauerfall kam der Flucht zuvor.
„Ich hätte fast geheult"Drei Tage nach der Grenzöffnung dann der erste Ausflug in den Westen, in die Partnerstadt Jenas, nach Erlangen. Als sich da um 9 Uhr die Kaufhaus-Türen öffneten, war klar, wohin sie die ersten Schritte auf westdeutschem Boden führen sollten: in die Musik-Abteilung, Reihe C. C wie Carpendale. „Ich hätte fast geheult, als ich gesehen hab', wie viele Kassetten es von Howard gab." 26 der 100 Mark Begrüßungsgeld blieben gleich im Kaufhaus, sämtlich für Musik des Schlagerstars.
Schon wenige Wochen später, am 25. November, packte Jusciak in Jena endgültig ihre Sachen: Nur mit einer Reisetasche im Gepäck machte sie sich auf. Ihre Schwester fuhr sie nach Bayreuth, dort holte sie ihre Wangener Freundin ab.
„Das war verrückt! So viele Autos auf den Straßen: Trabi an Trabi an Trabi. Teilweise war an den Tankstellen der Sprit ausgegangen", erinnert sie sich heute an die Auto-Fahrt.
Wangen - eine andere WeltDie erste Zeit in Wangen war von gemischten Gefühlen geprägt. „Ich wurde sehr herzlich aufgenommen", erzählt Jusciak. „Carola zog zu ihrem Freund, und ich blieb in ihrer Wohnung in der August-Braun-Straße. Ich hatte ja nichts, keine Möbel." Dazu kam: Die Eltern und ihre Schwester blieben im Osten, fast fünf Stunden entfernt. Wangen, der Westen, für die junge Frau damals eine andere Welt. „Die ersten Wochen waren trotz der lieben Menschen hier sehr traurig", sagt sie.
„Die Einheit soll endlich wahr werden"Doch schnell fand die Schachspielerin Anschluss im Wangener Schachclub, und auch eine Arbeitsstelle war in Sicht. „Am 1. Dezember 1989 fing ich in den AKO-Werken als Akkordarbeiterin an", sagt sie. Heute arbeitet sie als Betriebsprüferin der Deutschen Rentenversicherung und wohnt in Lindau. Die Entscheidung nach dem Mauerfall in den Westen gegangen zu sein, bezeichnet sie heute als größten Schritt. „Wer weiß, was aus mir geworden wäre." Ihr großer Wunsch: „Die Einheit soll endlich wahr werden. Es kann nicht sein, dass immer noch zwischen Ossi und Wessi unterschieden wird."
Howard Carpendale kennt Ute Jusciak heute übrigens persönlich. Nach unzähligen Konzertbesuchen in der ersten Reihe und einem langen Brief verbindet sie eine Freundschaft.
Zum Original