Christiane E. Fricke

Freie Redakteurin & Journalistin

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Im Klassenzimmer der Pinguine

Im Klassenzimmer der Pinguine

An Bord der „MS Fram“ lernen Passagiere die Tier- und Pflanzenwelt des sechsten Kontinents theoretisch und praktisch kennen. So werden sie ganz von selbst zu Botschaftern des letzten unberührten Ökosystems der Erde.

7:45 Uhr Wecken, 8 Uhr Frühstück, Arbeiten, Tiere füttern und Spazieren gehen; um 12 Uhr gibt es Mittagessen und eine ausgiebige Pause bis zum Kaffeetrinken um 15 Uhr. Bleiben nicht einmal drei Stunden zum Arbeiten und das Abendprogramm kann beginnen mit Essen, Spielen, Musik machen und Lesen. Wir schreiben das Jahr 1912. Die Crew des deutschen Polarforschers Wilhelm Filchner, die im Schelfeis der Wedell-See vom antarktischen Winter überrascht wurde, hat ein recht gemütliches Dasein. Nicht zu vergleichen mit dem Leben auf dem norwegischen Expeditionsschiff „MS Fram“, das zwölf Tage lang mit 249 Passagieren entlang der antarktischen Halbinsel kreuzt.

Am 30. Januar 2009 sitzen sie schon um 9:30 Uhr in einem der beiden Vorlesungssäle und lauschen den Ausführungen des Historikers Arne Kertelheim. Auf dem Plan steht ein Vortrag zur Geschichte der deutschen Antarktis-Forschung. Die hat ausgesprochen amüsante Seiten. Doch hier ist fast jeder noch müde. Alle haben am Vorabend zwischen 23 und 24 Uhr die an der Wasseroberfläche fressenden Buckelwale beobachtet, für die Kapitän Steinar Hansen die Maschinen stoppen ließ. Die Sommernächte sind kurz in diesen Breiten.

Gelegentlich rumst es hörbar; ein leises Zittern geht durch das Schiff. Doch der fast einen halben Meter starke Vorschiffsrumpf schiebt sämtliche Eisschollen weg, die ihm auf dem Weg durch den Crystal Sound vor den Bug kommen. Derweil steht um 11 Uhr bereits die nächste Vorlesung auf dem Programm. Während die englischsprachigen Passagiere nebenan einem Vortrag des Ornithologen Manuel Marin zuhören, referiert Lektor Jean-Louis Imbs über Seevögel am Ende der Welt.

Eine Art ist besonders interessant: der Weißgesichtscheidenschnabel, ein Aas- und Kotfresser, dem dies im schmutzigen Gesicht steht. Von weitem sieht er aber gar nicht so schlecht aus mit seinem weißen Federkleid. Man findet ihn inmitten der Pinguinkolonien. Dort spielt er den Müllmann, frisst mit großem Appetit deren stinkende Ausscheidungen – jedenfalls solange sie frisch sind – und macht sich unbeliebt. Wie, das zeigt sich am nächsten Tag auf Port Lockroy.

Die britische Forschungsstation, seit 1996 Museum und Poststation, wird von Besuchern und Eselspinguinen gleichermaßen geschätzt. Ihre Jungen füttern sie noch um diese Zeit, mitten auf dem Gehweg und unbeeindruckt von den staunenden Passagieren der „Fram“. Sie würgen einen Ball aus Schalentieren hoch und übergeben ihn dem Schlund des Jungtiers – wenn alles gut geht. Diesmal aber macht ihnen ein Weißgesicht-Scheidenschnabel einen Strich durch die Rechnung. Der taubengroße Vogel springt zwischen Elterntier und Junges, denen vor Schreck der angedaute Krill aus dem Schnabel fällt. Ein dramatischer Moment. Die Umstehenden reißen ihre Kameras hoch, versuchen den Fortgang des Dramas inklusive wütender Verfolgungsjagd festzuhalten.

Der Vorfall ist noch am Abend Thema am Buffet, wo auch aufgrund der reichen Tafel vergleichsweise gesittete Ernährungsstrategien zum Einsatz kommen. „Das Verhalten nennt man Kleptoparasitismus“, erklärt der Biologe Stefan Stoll. „Die Scheidenschnäbel klauen bzw. ernähren sich auf Kosten der Pinguine.“ Krill, der einmal auf den Boden gefallen sei, würde ein Junges im übrigen nie wieder aufnehmen. „Auf diese Art und Weise schützt es sich vor Krankheitskeimen.“

Stoll, der an der Universität Konstanz seine Doktorarbeit schreibt, gehört zum zehnköpfigen Expeditionsteam an Bord der „Fram“, unter ihnen allein sieben Wissenschaftler. Sie sind auch bei allen elf Anlandungen dabei, markieren die zugänglichen Areale mit roten Fähnchen und beziehen an interessanten Stellen stundenlang Posten, um dort Auskünfte zu geben. Dabei halten sie die Bewegungen von Tier und Mensch genau im Auge.

Auf den Fish Inseln gilt es, den Alleingang einer leichtsinnigen Touristin zu stoppen, die von nervös gewordenen Raubmöwen im Tiefflug attackiert wird; keine 100 Meter entfernt muss auf einem schneefreien Felsplateau eine winzige Flechte beschützt werden. Gerade mal zwei Zentimeter ist sie groß. „Dafür hat sie 100 Jahre gebraucht“, erklärt Stoll, der neben dem verletzlichen Grün Wache schiebt. Wie alle seriösen Reiseveranstalter ist auch Hurtigruten Mitglied der IAATO, der internationalen Vereinigung von Reiseunternehmen, die in der Antarktis einen naturschonenden Tourismus praktizieren.

Die Ziele sind hehr, aber in Augenblicken wie diesen schnell vergessen: Auf der Insel Horseshoe entdecken die Landgänger zwei schläfrige Weddellrobben, eine von ihnen mit einer kleinen Wunde auf dem Rücken. Binnen kurzer Zeit befinden sich die Tiere im Belagerungszustand. Der in der Nähe postierte Wissenschaftler ist abgelenkt. „Und jetzt noch das Blut“, murmelt eine Besucherin, die Kamera im Anschlag. Ein anderer wirft sich bäuchlings geradewegs vor das Tier, das sich zum mühseligen Aufbruch ins nahe gelegene Wasser entschließt.

Fünf Meter Mindestabstand zu Pinguinen, zehn Meter zu Robben wurde den Passagieren beim „IAATO-Briefing“ vor der ersten Anlandung verordnet. Die Antarktis, das letzte fast unberührte Ökosystem dieser Erde, soll unter allen Umständen erhalten bleiben. Darin sind sich auch die 43 Staaten einig, die den Antarktisvertrag von 1959 ratifiziert und den Leitfaden für Besucher entwickelt haben. Ihre Territorialansprüche haben sie bis zum Auslaufen des Vertrages 2041 auf Eis gelegt; ihren Rohstoff-Hunger 1991 noch einmal für mindestens 50 Jahre hinten angestellt. Der fünfte Kontinent soll von ihnen einträchtig „für ausschließlich friedliche Zwecke“ genutzt werden.

An Bord der „Fram“ steht die internationale Eintracht von 18 Nationalitäten aufgrund gemeinsamer Interessen und bester Versorgung nicht ernsthaft zur Disposition. Dies wird auch nicht dadurch in Zweifel gezogen, dass die mitreisende Miss China 2006 samt ihren Landsleuten auf einer Bergspitze oberhalb der argentinischen Forschungsstation Almirante Brown die Nationalflagge entrollt. Auch die beiden indischen Passagiere sind mit eigener Flagge angereist wie sich später herausstellt.

Auf 40000 bis 45000 Besucher kommen Schätzungen für die Saison zwischen November und März inzwischen. Nur 2000 stoßen dabei so weit nach Süden vor wie die Passagiere der „Fram“ auf dieser Reise. Beim 65. Breitengrad ist für die meisten Schluss. Insgesamt sind ca. 40 Schiffe in der Region unterwegs. Damit sind die Grenzen für diese empfindliche Region erreicht, auch wenn die Gäste zuhause als „Botschafter für die Antarktis“ auftreten, wie nicht nur der Biologe Stefan Stoll erhofft. Eine ganze Branche legitimiert ihre Aktivitäten zu einem guten Teil auch mit dem Umweltbewusstsein, das sie schärfen will.

Wer mit eigenen Augen gesehen hat, wie Adéliepinguine die Steinchen für ihren Nestbau zusammensuchen, der fragt sich vielleicht auch, welche Folgen der vom beschleunigten Temperaturanstieg verursachte Schneefall für ihre Brutplätze hat. „Adéliepinguine sind die ersten, die im zeitigen Frühjahr beginnen, ihre Felsen zu besiedeln und Eier zu legen“, erklärt Stoll. „Dafür brauchen sie schneefreie Gebiete“.

Auf der „Fram“ ist das Schicksal der Pinguine niemandem mehr egal. Soviel steht schon nach wenigen Anlandungen fest. Dass aber andere Arten vom Klimawandel zu profitieren scheinen, irritiert dann doch ein bisschen. Überhaupt scheint man in der Biologie mit einfachen Erklärungsmodellen nicht weit zu kommen, erkennen die bildungshungrigen Kreuzfahrer. „Was klimatisch geschieht, können die Wissenschaftler mittlerweile sehr gut in Modelle fassen“, erklärt Stoll. Sobald es aber auf die biologische Ebene gehe, werde das System zunehmend komplex. In der Natur ändere sich eben nicht nur die Temperatur. Andere Dinge ändern sich gleichzeitig mit, oder sie werden auch durch bestimmte andere Faktoren aufgefangen. Und diese Interaktionen hätten die Naturwissenschaftler noch gar nicht durchschaut. Am Ende der Reise haben die Passagiere noch etwas gelernt: „Wissenschaft ist nur der letzte Stand des Irrtums“.