Christian Volk

ZDF-Reporter und Redakteur, Mainz

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Fünf Jahre "Wir schaffen das": Irrte Merkel, oder hatte sie recht? - DER SPIEGEL

Im August 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, sagte die Kanzlerin ihren legendären Satz: "Wir schaffen das." Die Analyse, fünf Jahre danach.

Wo anfangen, wenn alles fremd ist? Wenn man nicht viel mehr als "Ja" und "Nein" sagen kann in einer Sprache, die keine Ähnlichkeit mit der eigenen besitzt? Yazan Al Shareef schaute viel fern, meistens RTL. "Ich war so froh, als ich entdeckt habe, dass man am Fernseher deutsche Untertitel einschalten kann", sagt er. Die Wörter, die er häufig hörte, habe er in ein Vokabelheft geschrieben.

Der 16-Jährige aus dem syrischen Rakka war nach seiner Ankunft im hessischen Lahn-Dill-Kreis unsicher, ob das alles zu schaffen sei: neue Sprache, neue Schule, neues Leben. "Ich hatte wirklich Zweifel."

Seitdem sind fünf Jahre vergangen.

Al Shareef schüttelt den Kopf und lacht, als könnte er es nicht glauben, dass der Junge damals wirklich er war. Er lebt nach wie vor in Dillenburg und spricht fast perfekt Deutsch. Vor ein paar Wochen hat er sein Abitur bestanden, ab Herbst will er Maschinenbau studieren. "Ich bin ziemlich eingedeutscht", sagt er. Am Gymnasium war er einer der wenigen Flüchtlinge. Sein Freundeskreis ist deutsch, er spielt als Außenverteidiger Fußball im SSV 1920 Allendorf, und er findet Mülltrennung wichtig. "Das ist gut für die Umwelt."

Yazan Al Shareef kann sich nicht mehr vorstellen, nach Syrien zurückzukehren. Selbst wenn dort Frieden herrschte. "Höchstens um Urlaub zu machen", sagt er. "Ich bin in Deutschland zu Hause."

Es ist ein heißer Tag im August. Am Abend desselben Tages versammeln sich auf dem Marktplatz in Zittau die "Freunde von Pegida". Zittau liegt rund 580 Kilometer weit von Dillenburg entfernt, auf einer Landkarte in einer fast waagerechten Linie von West nach Ost.

Rund 50 Menschen sind gekommen, einige mit Deutschlandfahnen, andere mit Plakaten. "Als Einheit gegen die Überfremdung im eigenen Land!" steht auf einem Banner, das Jugendliche, kaum älter als 16 Jahre, halten. Der erste Redner ist Pegida-Mann Wolfgang Taufkirch. "Die Muslime haben eine Taktik, und die ist immer die gleiche", ruft er übers Mikrofon. "Einwandern, vermehren, Moscheen bauen, Islamverbände gründen, in die Politik gehen und dann das Land übernehmen."

Dillenburg und Zittau, zwei deutsche Szenen. Was hier und dort passiert, hat mit dem Zustand des Landes in diesen Tagen zu tun, aber auch mit dem Zustand vor fünf Jahren und einem Satz, der damals fiel, am 31. August 2015. Er lautete: "Wir schaffen das."

Die Bundeskanzlerin hat diesen Satz gesagt, und es ist interessant, ihn sich anzuhören. Die Kanzlerin kann grimmig, ungeduldig, genervt aussehen, was leicht davon ablenkt, dass das Schicksal sie mit einer weichen, ewig freundlichen Stimme ausgestattet hat, sodass sie selten staatstragend wirkt. Ihr "Wir schaffen das" kam so beiläufig daher, dass dieser Satz den Eindruck erwecken konnte, als wäre das, was folgen sollte, keine große Leistung.

Und damit begann das Missverständnis.



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