Schönbrunn, Stephansdom und Rathaus sind out. Cholerakanäle, Ratten und Feueropfer sind in. "Bitte keine Ratten streicheln. Und nicht zu viel Abstand zum Vordermann lassen, damit wir nicht wieder im Dunklen jemand verlieren." Mit diesen Worten eröffnet Peter Ryborz vom Wiener Underground Club seine Tour in die Wiener Unterwelt.
Abschrecken lässt sich aber keiner dadurch. Schließlich will man ja das andere Wien sehen. Das Wien, das nicht schon in zig Hochglanzprospekten, auf Torten und Postkarten verewigt ist. Und so steigen 50 wackere mit Sturmfackeln bewaffnete Touris zum Wienfluss hinunter und kämpfen jeder für sich mit der bangen Frage, ob man da unten etwa die ganze Zeit von Ratten umringt ist.
Noch aber ist alles ganz harmlos. Der Tross steht beeindruckt im denkmalgeschützten Tunnelgewölbe von Otto Wagner: über ein Stockwerk hoch mit der einzigartigen Akustik einer Kathedrale. Vor hundert Jahren wurde so der Wienfluss auf einer Strecke von zwei, drei Kilometern zwischen Naschmarkt und Stadtpark von der Oberfläche verbannt. Im schwachen Schein der Fackeln wirkt diese monumentale Anlage doppelt mächtig und die Besucherschar Besorgnis erregend klein. Düstere Gedanken über die völlige Überschätzung der menschlichen Spezies gesellen sich jäh zu Betrachtungen über die Vergänglichkeit des Lebens, als die ersten auf ein paar Grabsteine steigen, die für den Bau der Sohle verwendet wurden.
Aber keine Angst, unter den Grabsteinen sind keine Toten. Und auch sonst herrscht doch wirklich kein Grund zur Beunruhigung. Keine Ratten in Sicht und kein Regen zu hören. "Vor zwei Jahren bei einer Führung", so Peter Ryborz, "ist das Wasser plötzlich angestiegen, die alten Kanäle gingen über. Da muss man dann schauen, dass man schleunigst wieder nach oben kommt." Seitdem verlässt er sich nicht mehr auf die Wettervorhersagen der Hohen Warte, sondern auf seine Intuition und auf seine Feueropfer. Den ersten unerschrockenen Teilnehmern wird mulmig, und der Rest hofft, dass die alte Bananenschachtel, die für dieses Ritual mitgebracht wurde, auch diesmal ihren Zweck erfüllen wird.
Ob die Wienerinnen und Wiener vor 170 Jahren auch versuchten, Katastrophen abzuwenden, indem sie Gegenstände des täglichen Lebens anzündeten und im Wienfluss auf Reisen schickten, ist unbekannt. Bekannt hingegen ist, dass es - wenn - nichts gefruchtet hat. Denn zwischen August 1830 und Februar 1831 brach in Wien eine Choleraepidemie aus, der an die 2000 Menschen zum Opfer fielen. Ursache war ein ungewöhnlich großer Eisstoß auf der Donau, der das natürliche Abfließen der Wienerwaldbäche verhinderte. Nach dieser Katastrophe wurde endlich eine Lösung für die massiven hygienischen Probleme gesucht. Neben der sukzessiven Einwölbung sämtlicher wichtiger Bäche des Stadtgebietes wurden zwei große Sammelkanäle, die die Abwässer aufnehmen und in die Donau leiten sollten, errichtet. Die Abwässer wurden mit dieser Maßnahme vom Wienfluss getrennt und hinter Mauern gebannt.
Da die abenteuerlustigen Touris aber schließlich nicht gekommen sind, um nichts zu sehen, heißt es also: nichts wie rein in die niedrigen dunklen rutschigen Gänge, um einen Blick auf die historischen Abwasserkanäle zu erhaschen. Man interessiert sich ja wohl für Geschichte. Sicher, die WC-Inhalte von einer Million Wiener Haushalte sind bestimmt eine Attraktion. Oder hofft da so mancher auf ein paar Pretiosen, die durchs Waschbecken in den Kanal geflutscht sind? Leute, Leute, die Zeiten sind seit der Erfindung des Siffons vorbei. Heute lassen sich höchstens Gebisse, Perücken oder Kondome rausfischen.
Über eine Wendeltreppe, die nur einzeln begangen werden darf - Einsturzgefahr! - geht es vorerst ins Freie. Der Geruch von frischem Sauerkraut - wir sind am Naschmarkt gelandet - empfindet so mancher als Wohltat. Das eine oder andere verkniffene Gesicht mischt sich mittlerweile unter die Schar der Verwegenen und das Lachen ist vielen kurzfristig vergangen. Flotte Sprüche wie "Ich komm mir vor wie ein Rattenfänger" oder "Seht euch den Rattenschwanz an, der dem Peter folgt" sind jedenfalls nicht mehr zu hören. Nur ein Berliner kommentiert: "Di Großen ham ja alle mehr schiss als de Kleenen." Womit wir wieder beim zentralen Thema wären.
Dabei ist doch das wichtigste noch vor uns. Der Raum, in dem "Der Dritte Mann" gedreht wurde. Und wo bitte schön soll es da mitten am Naschmarkt wieder zur Kanalisation gehen? Bei einem Kanaldeckel etwa? Zur Auswahl stünden ja wahrlich genug dieser 60 mal 60 Zentimeter großen Einstiegsschächte, denn immerhin ist das öffentliche Kanalnetz Wiens 2158 Kilometer lang und 78 Prozent davon sind zugänglich, wenngleich auch meist nur in gebückter Haltung. Aber auf Tritteisen an den Wänden wieder runterzusteigen, erspart Peter Ryborz dann doch den bereits leicht angeschlagenen Teilzeit-Helden der Unterwelt.
Unspektakulär geht es also in einer ehemaligen Kebab-Bude auf richtig fest gebauten Stufen wieder nach unten. Fest steht, ob man nun bei der offiziellen Tour des Magistrats mit Licht- und Tonshow-Effekten dabei ist oder bei der abenteuerlichen Variante des Peter Ryborz, der Raum, in dem die legendären Verfolgungsszenen von Harry Lime gedreht wurden, ist höchst unspektakulär, und es gehört eine Menge Phantasie dazu, um die spannenden Szenen des Films hier in diesen kleinen Raum zu verfrachten.
Die Vorbereitungen für die Aufnahmen allerdings waren beachtlich. Orson Welles, der im Film den Bösewicht Lime verkörpert, hat beispielsweise eine gründliche Säuberung der Wände verlangt. Also wurden sie mit heißem Wasser abgewaschen und anschließend mit literweise Parfum besprüht. Wo es hier doch höchstens ein bisschen streng riecht.
Und ein letztes Mal soll die dramaturgisch ausgeklügelte Tour noch einmal einen Höhepunkt erleben. "In diesen kleinen Kanal ziehen sich die Ratten gern zurück. Wer reingeht, riskiert, dass die Ratten rausschießen. Dann einfach sanft vom Hosenbein abstreifen". Natürlich bekommen wir keine Ratte zu Gesicht, denn die ziegelgemauerten Kanäle - idealer Aufenthaltsort für Ratten - wurden längst durch Beton ersetzt. Nachdem aber auch diese Mutprobe überstanden ist, werden alle mit einer Urkunde - schließlich sind wir in Österreich, dem Land der Titel und Auszeichnungen, zur amtlich anerkannten Kanalratte ernannt.
Und eine piepsige Kinderstimme fragt: Gibt es eigentlich nur Kanalratten oder auch andere? Tja!