Die Rückkehr der Rettungsschiffe
Veröffentlicht in Weltkulturen News 02/2020 ‘DEDICATION’ (PDF Spreadsheet)
“Piraterie
im frühen achtzehnten Jahrhundert war im Grunde ein Kampf für das
Leben, gegen den sozial organisierten Tod.”
Diese Definition der Piraterie, aus Markus Redikers Villains
of all Nations,
wird dem damaligen italienischen Innenminister Matteo Salvini wohl
kaum durch den Kopf gegangen sein, als er im Juni 2019, angesichts
der Rettung von 52 Menschen durch die Crew der Sea-Watch
3,
proklamierte:“ein
weiterer Akt der Piraterie durch eine geächtete Organisation”.
Und doch tobt auf dem Mittelmeer seit mittlerweile fünf Jahren ein
ebensolcher Kampf:
Die Staaten Europas haben an ihrer gemeinsamen Außengrenze eine Zone
erschaffen, in der alle durch die EU
proklamierten
Werte, ihre Bürger*innen- und Menschenrechte suspendiert sind. Ein
Ausnahmezustand,
der
das Meer zur Waffe degradiert, Menschen zur Verhandlungsmasse – und
die fluide Südgrenze des europäischen Kontinents zur tödlichsten
Migrationsroute der Welt macht.
Die
europäischen Aktivist*innen von Sea-Watch
und anderen Rettungsorganisationen,
die sich dem
widersetzen, sind keine Pirat*innen im historischen, legalen oder
ideellen Sinne: Die
historische Piraterie war, nach Rediker, ein (Klassen-)Kampf um das
eigene Leben, der blanken Trotz dem Tode gegenüber voraussetzte.
Die
zivile Seenotrettung im
Mittelmeer ist in erster Linie
ein solidarischer Kampf, aus der privilegierten Position heraus, dass
es eben nicht das eigene Leben ist, welches zur Disposition steht. Es
sind die Leben der Anderen
– also
derer, die durch nationalstaatliche Logik aus dem europäischen Wir
ausgeschlossen sind
– die
zehntausendfach in der Sahara und auf dem Mittelmeer verloren gehen,
die in libyschen Internierungslagern vor sich hin vegetieren und für
deren Rückverschleppung von hoher See die EU eine sogenannte
Libysche Küstenwache mit Millionenbeträgen bezahlt.
“Ich
brauche mir fremde Probleme, Sorgen und Unterdrückung nicht
anzueignen,”erklärte
Pia Klemp, eine der Kapitäninnen der zivilen Seenotrettungsflotte,
der in Italien ein Prozess wegen Beihilfe zur illegalen Einreise
droht: “Solidarität
bedeutet, zu erkennen, dass diese Probleme schon von Anfang an meine
eigenen sind. Egal, ob sie Auswirkungen auf mein tägliches Leben
haben, oder nicht.”
Vielleicht ist es genau diese Idee, die eine Konstruktion
des Anderen
und damit die Ignoranz gegenüber dessen Leid ausschließt
und damit in
der momentanen Mentalität der EU einen Akt gedanklicher Piraterie
darstellt.
Seit
die
M/S
Sea-Watch
2015 in See stach, um diese
Idee zu vertreten und dem
Sterben an der Außengrenze etwas entgegenzusetzen, hat sich
jedenfalls einiges getan: 2015 und 2016 in der Zivilgesellschaft
gefeiert und von den staatlichen Stellen in das offizielle Such- und
Rettungsnetzwerk eingebunden, drehte der politische
Wind
im zentralen Mittelmeer schnell. Im ersten Halbjahr 2017 begannen
Schlüsselpersonen der europäischen Politik die Behauptung zu
etablieren, die zivilen Retter*innen arbeiteten auf die ein oder
andere Weise mit den Menschenschmugglern in Libyen zusammen. Gestützt
auf “Arbeitshypothesen”
des sizilianischen Staatsanwaltes Carmelo Zuccaro, verkündete
beispielsweise der damalige österreichische Außenminister Sebastian
Kurz, der “NGO-Wahnsinn”
müsse beendet werden.
Auch
sein deutscher Amtskollege Thomas de Maizière
übernahm die unbelegten Behauptungen Zuccaros, “dass
die Schiffe in libysche Gewässer fahren und vor dem Strand ihre
Positionslichter einschalten”
würden. Was er nicht übernahm, war Zuccaros weitere (und
in
der konservativen, politischen Mitte womöglich unpopulärere)
Arbeitshypothese,
“dass
manche Hilfsorganisationen Migranten nach Italien bringen wollen, um
die Wirtschaft zu schwächen”.
Parallel
zur öffentlichkeitswirksamen Kampagne an Land, zogen sich die
staatlichen Militär- und Polizeioperationen aus dem Suchgebiet
vor der libyschen Küste zurück, um, wie Paolo Cuttitta im Border
Criminologies Blog
der Universität Oxford darlegt, “der
libyschen Küstenwache Raum zu geben, Migrant*innen zurück zu
verschleppen, sowie NGO-Schiffe zu vertreiben und einzuschüchtern.”
Im Sommer 2017 wurde schließlich das Rettungsschiff Iuventa
des
Vereins
Jugend
Rettet
in Italien
beschlagnahmt. Mehrere humanitäre Organisationen stellten daraufhin
ihr Engagement im Mittelmeer ein. Als ein knappes Jahr später, im
Juni 2018, die Regierungskoalition aus
5-Sterne-Bewegung
und Lega
in Italien an die Macht kam und der
rechtsradikale
Innenminister Matteo Salvini verkündete, die Häfen des Landes zu
schließen, schien das Ende der zivilen
Seenotrettung
nahe. Auch das sozialdemokratisch regierte Malta, das den NGOs lange
als Operationsbasis gedient hatte, schloss in der Folge seinen Hafen,
nur umgekehrt: Es ließ die Rettungsschiffe
Lifeline, Seefuchs
und Sea-Watch
3
über Monate nicht mehr auslaufen.
Doch aus der humanitären Intervention wurde eine Widerstandsbewegung: Die verbleibenden aktiven Rettungsorganisationen—Sea-Watch (DE), Mediterranea (IT), Open Arms (ES) und Sea-Eye (DE)—ließen sich weder von wochenlangen Stand-Offs noch von den regelmäßig danach blühenden Beschlagnahmungs-Perioden abschrecken. Auch auf ein Minimum an Schiffen dezimiert und jeglicher Effizienz im Einsatz beraubt, führte die von manchen Aktivist*innen No Borders Navy getaufte zivile Rettungsflotte ihren Kampf gegen Windmühlen unbeirrt fort: Jedes Leben, das auf See in Gefahr ist, muss gerettet und an einem sicheren Ort an Land gebracht werden. “Punto!”, wie Matteo Salvini sagen würde.
In
seinem Essay Of Other Spaces
beschreibt Michel Foucault
das Schiff als “die größte Reserve der Vorstellungskraft.”
Die
zivile Seenotrettung hat
dieses geistige Potenzial des Schiffes nutzbar gemacht
und gegen die
tödliche Tristesse einer Festung Europa
in Stellung gebracht. Sie
haben ihre Schiffe als Vehikel nicht nur für Menschen, sondern für
die Idee eines solidarischen, offenen Europa bereitgestellt
– und das wurde dankbar angenommen. So schreiben die
Politikwissenschaftler Beppe Caccia und Sandro Mezzadra der
italienischen Seenotrettungsorganisation Mediterranea:
“Unser
Schiff wurde von einer Vielzahl von Standpunkten angeeignet und
irgendwie neu erfunden.
Sie reichen
von besetzten Sozialen Zentren bis hin zu Kirchengemeinden,
Universitäten und Schulen, von Kleinstadtkreisen bis hin zu
Großstadt-Versammlungen.”
Die Schiffe, ihre Crews und Kapitän*innen zeichnen ein Bild, das die Probleme der Anderen zu unseren macht. Gleichzeitig werden damit aber auch die Lösungen zu Lösungen für uns. Matteo Salvinis wiederholte Forderung nach “Beschlagnahmung des Piratenschiffes” unterstreicht daher nur die Foucaultsche Erkenntnis: “In Zivilisationen ohne Schiffe versiegen die Träume, Spionage ersetzt das Abenteuer und die Polizei die Piraten.”