Lange gesucht und endlich gefunden: In der Serie "Ode an ein Ding" feiern wir jede Woche völlig subjektiv ein Produkt. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 36/2023.
"... und dann hat er einfach Schluss gemacht", höre ich Saskia aus der Parallelklasse am Nebentisch sagen. Sie schluchzt. Mit zusammengepressten Augen sucht ihr Mund nach dem Strohhalm im Drink, während eine Träne ihre Wange hinunterkullert und für einen Moment am Kinn verweilt. Ein salziger Tropfen an der Klippe, kurz vorm Sprung ins zuckrige Getränk.
Der Rettungsschirm leuchtet pink. Er ist mit Blumen gemustert, so wie man sich früher Hawaii vorstellte, und steckt in einer Scheibe Ananas, die wiederum am Rand des Glases hängt. Als die Träne endlich springt, wird sie vom Schirm aufgefangen.
An dem Abend wollte ich das, was Saskia schon hatte: Männergeschichten, Drama und Drinks, die keine "Virgins" mehr sind. Ich wollte Piña Colada. Der Mix aus Rum, Kokosnusscreme und Ananassaft begleitete mich durch die Pubertät. Weniger als der Cocktail selbst wurde für mich sein obligatorisches Schirmchen zur Einstiegsdroge ins Erwachsensein. Wo immer er aufgespannt wurde, warteten die drei großen Fs: Freundinnen, Freiheit und Freitagabende.
Die Drinks sind über die Jahre weniger süß geworden und das Drama weniger drama. Die Liebe zum Cocktailschirmchen ist geblieben. Es spendet Eiswürfeln Schatten und Menschen Trost und ich glaube, dass es damit mehr leistet, als die meisten anderen Gegenstände seiner Größe.
Mit dem Cocktailschirmchen und mir ist es so wie mit jemandem, den man mal gut kannte. Die meiste Zeit denkt man nicht aneinander. Wenn man sich dann zufällig begegnet, ist gleich wieder alles da, die Erinnerungen, die Freude, das Vergessen, warum man sich eigentlich so selten sieht.
In den Berliner Bars und Kneipen, die ich heute besuche, trägt ein Cocktail sein Schirmchen höchstens ironisch. Für meine Barkeeper ist es ein Schirmchen non grata. Vielleicht, weil die Drinks, in die er traditionell gehört, sowieso nicht auf deren Karte stehen.
Getränke, die ein Schirmchen tragen dürfen, sind in der Regel auf Rumbasis und enthalten "exotische" Fruchtsäfte. Man nennt sie auch Tiki-Cocktails. Sie sind, wie die Schirmchen selbst, wohl eine Erfindung aus der Ära der großen Depression, als mit der Weltwirtschaftskrise der Südpazifik für US-Amerikaner zum Sehnsuchtsort wurde.
Vor allem Frauen sollen damals nach den bunten Schirmchen in ihren fruchtigen Getränken verlangt haben. Ob diese weibliche Lesart ein Grund ist, warum sie in der Fachwelt eher verpönt sind? Zumindest hat Münchens bekanntester Barkeeper Charles Schumann in seinem Buch Schumann's Bar geschrieben: "Ein Cocktail ist für mich kein Obst- und Gemüsesalat und schon gar nicht geeignet für Regenschirmchen oder Nationalflaggen."
Andere Cocktailbücher erwähnen das Schirmchen erst gar nicht. Man könnte fast meinen, aus der Geschichte des Trinkens wurde es herausgeschrieben.
Schade, denke ich, und dass man doch nie genug haben kann von Rettungsschirmchen, den drei großen Fs und ihren Geschichten. Ich nehme mir vor, ab jetzt immer eine Notfallreserve zu Hause zu haben. Und überhaupt, hat nicht jeder, auch jedes Getränk, ein Cocktailschirmchen verdient?
In einem Onlineshop werde ich fündig. Ganze 100 Cocktailschirme in einem einzigen Paket, gemixt in vielen bunten Farben. "Für die Hawaii Sommerparty" steht daneben. "Sweet", sage ich laut zu mir selbst und klicke auf "kaufen".