Wenn von Pilzen die Rede war, dachte man bis vor wenigen Jahren an Ökos auf Waldwanderung, Jägerschnitzel oder trippende Hippies. Mittlerweile werden Pilze vollkommen neu entdeckt, erforscht - und gehyped. Merlin Sheldrake ist nicht ganz unschuldig daran. Mit "Verwobenes Leben" hat der britische Biologe einen Bestseller geschrieben, der die mystische Welt der Pilze und ihren Einfluss auf unser Ökosystem in den Blick nimmt.
ZEITmagazin ONLINE: Herr Sheldrake, die Pilzsaison ist da! Waren Sie schon sammeln?
Merlin Sheldrake: Leider noch nicht! Ich denke aber, es wird eine gute Saison. Wir hatten einen verregneten Sommer, typisch England. Zumindest die lieben das.
ZEITmagazin ONLINE: Mein Vater hat früher immer gesagt: "Man kann jeden Pilz probieren – einmal."
Sheldrake: Das stimmt! Man sollte unbedingt wissen, was man da pflückt. Ich selbst erkenne einige gängige Arten wie Pfifferlinge, Steinpilze oder Maitake. In der Regel verwende ich aber Guides oder eine App zur Identifizierung. Die funktionieren ziemlich gut. Was Pilzesammeln angeht, bin ich nicht so erfahren wie manch andere Leute.
ZEITmagazin ONLINE: Sie haben allerdings über Pilze promoviert und einen Bestseller über sie geschrieben. Wenn Sie von "Pilzen" sprechen – was genau meinen Sie eigentlich damit?
Sheldrake: Was wir gemeinhin unter Pilzen verstehen, sind die essbaren Fruchtkörper wie Champignons — aber das ist lediglich die Spitze des Eisbergs. Nehmen Sie Hefen, das sind auch Pilze. Wir nutzen sie zum Fermentieren von Lebensmitteln oder im Prozess zur Herstellung von Alkohol. Ich würde so weit gehen, zu sagen, dass das meiste, was lecker ist, fermentiert ist. Andere Pilze haben ihren Weg in die Medizin gefunden, etwa Penicillin, das aus einem Schimmelpilz hergestellt wird. Die meisten Pilze leben allerdings als unterirdische Myzel-Netzwerke: Geflechte aus feinen Fäden, die vor allem unterirdisch agieren.ZEITmagazin ONLINE: Die kanadische Forstwissenschaftlerin Suzanne Simard prägte dafür den Begriff "Wood Wide Web".
Sheldrake: Der Begriff "Wood Wide Web" wird unterschiedlich verwendet. Darunter versteht man zum Beispiel die Symbiose von Pilzen und Baumwurzeln, genannt "Mykorrhiza". Myzelien spielen eine entscheidende Rolle im Ökosystem, indem sie etwa organische Materie abbauen und in für Pflanzen verfügbare Nährstoffe umwandeln. Über die feinen Fäden, Hyphen genannt, werden beispielsweise Bäume mit Nährstoffen versorgt, in einigen Fällen werden Nährstoffe auch von einem Baum zum anderen transportiert. Ich verwende die Metapher selten, da sie Pilze zu kaum mehr als Kabeln macht, die Informationen transportieren — dabei sind sie hochkomplexe Organismen. Man sollte das Wood Wide Web insofern vielleicht noch abstrakter begreifen. Als Metapher auf das Leben: Alles ist miteinander verbunden.
ZEITmagazin ONLINE: Pilze scheinen momentan verschiedenste Lebensbereiche zu durchdringen. Für eine von Pilzen inspirierte Modekollektion von Stella McCartney waren Sie als Berater tätig, mit der Sängerin Björk haben Sie sich für einen Dokumentarfilm über Pilze zusammengetan. In den sozialen Medien gibt es neuerdings sogar Pilz-Fluencer. Und ich bekomme ständig Werbung für Pilzschokolade oder Pilzcappuccino. Warum der Hype? Und warum jetzt?
Sheldrake: Ich denke, es gibt derzeit ein größeres Interesse an der Naturverbundenheit und am für das Auge unsichtbaren Leben in uns, auf uns und um uns herum. Pilze nehmen dabei eine zentrale Rolle ein, da sie an so vielen Transformationsprozessen in der Natur beteiligt sind. Momentan zeigt sich immer stärker, wie Pilze uns dabei helfen können, unsere geschädigte Welt zu heilen. Das wird als Thema auch in der Kunst und in der Mode aufgegriffen.
ZEITmagazin ONLINE: Wie lässt sich denn mit Pilzen die Welt verbessern?
Sheldrake: Aus Pilzen kann man zum Beispiel Lederersatz herstellen, in der Modeindustrie kommt das bereits zum Einsatz. In der Lebensmittelindustrie sind Pilze ein beliebter Fleischersatz. In der Landwirtschaft wird unter anderem daran geforscht, wie man mithilfe von Fungi zur Regeneration von Ökosystemen beitragen kann. Außerdem werden sie in vielen Kulturen traditionell als Heilpilze eingesetzt, etwa der Chaga-Pilz in Russland. Einige Heilpilze produzieren beispielsweise antivirale Verbindungen. Es gibt aber auch ganz andere, ausgefallenere Einsatzbereiche.
ZEITmagazin ONLINE: Welche denn zum Beispiel?
Sheldrake: Ein Freund und Schleimpilz-Experte erzählte mir beispielsweise von einem Test, den er durchgeführt hatte. Er verirrte sich häufig in Ikea-Geschäften und verbrachte viel Zeit damit, den Ausgang zu suchen. Er wollte wissen, ob seine Pilze schlauer waren als er und baute ein Labyrinth, basierend auf dem Grundriss seines örtlichen Ikea. Tatsächlich fanden die Schleimpilze ohne jegliche Schilder oder Personal schnell den kürzesten Weg zum Ausgang. In einem anderen Experiment wurden Myzelien eingesetzt, um die schnellsten Fluchtrouten bei Feuer auszumachen. In Großbritannien ließ man sie die effizientesten Routen zwischen Städten in Großbritannien finden. Ihre Wege zeichneten bereits existierende Autobahnen nach. Das lässt sich noch auf weitere Lebensbereiche übertragen.
ZEITmagazin ONLINE: Was ist Ihrer Meinung nach so faszinierend an Magic Mushrooms?
Sheldrake:
Viele Kulturen haben eine lange Tradition, was den Konsum von
psychedelischen Pilzen angeht, nehmen Sie die Ureinwohner in Mexiko. Man
vermutet, dass sie auch in England oder Deutschland im Mittelalter
genommen wurden. In der Medizin wird derzeit wieder viel an ihnen
geforscht. Es gibt Studien, die nahelegen, dass der in den Pilzen
enthaltene Wirkstoff Psilocybin bei Depressionen oder Angststörungen
helfen kann. Das ist ein Feld, auf dem sich gerade wahnsinnig viel
bewegt. Generell weiß man aber noch sehr wenig.
ZEITmagazin ONLINE: Sie selbst haben sowohl privat als auch im Rahmen wissenschaftlicher Studien Magic Mushrooms und LSD konsumiert, das ebenfalls aus einem Pilz gewonnen wird. Was haben Sie während Ihrer psychedelischen Trips gelernt?
Sheldrake: Vieles, zum Beispiel, dass mein Geist ein viel größerer Ort ist, als ich normalerweise denke. Psychedelische Substanzen öffnen das Tor zu einer Welt aus Wäldern, Bergen und Feldern, wo sonst nur ein kleiner Garten ist. Das Bewusstsein wird zu etwas zutiefst Faszinierendem. Das Ego wird weicher.ZEITmagazin ONLINE: Der ehemalige US-Präsident Richard Nixon bezeichnete den Psychologen Timothy Leary, der sich in den Sechzigern für die Legalisierung psychedelischer Substanzen einsetzte, einmal als "gefährlichsten Mann Amerikas". Wovor hatte er Angst?
Sheldrake: Tatsächlich handelt es sich bei Pilzen um ziemlich mächtige Organismen, über die wir vieles noch gar nicht wissen. Sie können uns heilen, sie können uns aber auch töten. Menschen neigen dazu, Macht zu fürchten oder nach ihr zu streben. Außerdem leben wir in einer Gesellschaft, in der viele bewusstseinsverändernde Substanzen reguliert oder verboten sind. Das dient auch dem Schutz. Grundsätzlich kann man sich bei vielem fragen, inwiefern aktuelle Verbote gerechtfertigt sind. Magic Mushrooms kann man zum Beispiel kaum überdosieren. Dafür müsste man schon sehr, sehr viel konsumieren.
ZEITmagazin ONLINE: Sie selbst sind neben Ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit auch Musiker und haben sogar mal einen Pilzsong gemacht. Wie klingen Pilze?
Sheldrake: Es gibt tatsächlich die Möglichkeit, die biologische Aktivität von Pilzen in Klänge umzuwandeln. Das passiert über elektrische Sensoren, die an das Myzel angebracht werden, um bioelektrische Signale aufzunehmen. Die "Musik", die dabei herauskommt, wird so klingen wie der Klanggenerator, den man verwendet hat. Was diese Signale bedeuten, wissen wir noch nicht.
ZEITmagazin ONLINE: Jetzt haben wir viel darüber gesprochen, wie Pilze uns nützlich sein können. Gilt das auch umgekehrt: Können wir den Pilzen nutzen?
Sheldrake: Nun, Pilze sind deutlich älter als die Menschheit, insofern sind sie lange auch ohne den Menschen ganz gut ausgekommen. Trotzdem ist es so: Wir nehmen die Pilze wahr, sie uns aber auch. Es ist ein Geben und ein Nehmen. Denken Sie an Hefe. Uns nutzt der Pilz extrem, weil wir damit zum Beispiel Brot backen. Andererseits schaffen wir ihm ein Umfeld, in dem er gerne lebt. Wir füttern ihn. Nicht zu vergessen weiße Trüffelpilze und ihr herrlicher Duft! Dass der Mensch, genau wie der Hund, Schweine oder Eichhörnchen, ganz versessen ist von Trüffeln, hat für den Pilz einen evolutionären Vorteil: In dem Moment, wo wir in der Erde buddeln, um den Trüffel auszugraben, verteilen wir seine Sporen, wodurch neue Trüffel wachsen können. Er duftet also so gut, weil er gefunden werden will.
ZEITmagazin ONLINE: Echt wahr, dass Sie im Wald manchmal mit der Nase zuerst in der Erde wühlen, wie ein Trüffelschwein?
Sheldrake: Manchmal suche ich nach den Wurzeln einer bestimmten Baumart. Einige geben Hinweise auf ihre Art anhand des Geruchs, da muss man natürlich sehr dicht ran. Man kratzt dann an der Wurzel und schnuppert. Auch im Duft vom Waldboden stecken verschiedenste Informationen. Aus Interesse rieche ich daran – und schmecke! Es ist eine schöne Möglichkeit, aufmerksam gegenüber seiner Umgebung zu sein. Probieren Sie das mal aus.ZEITmagazin ONLINE: Ihnen scheint es generell wichtig zu sein, Forschung nicht bloß als Arbeit im Labor zu begreifen, sondern in lebensnahe Bereiche zu übertragen. Als Kind besuchten Sie einmal eine Hundeschau, um die These zu prüfen, ob Vierbeiner tatsächlich so aussehen wie ihre Halter.
Sheldrake: Und ich sage Ihnen: In sehr vielen Fällen war das tatsächlich der Fall. Diese über viele Jahre gewachsenen domestizierten Beziehungen zu beobachten und analysieren, fand ich damals ziemlich cool. Generell finde ich, Wissenschaft sollte Emotionen und Bewusstsein nicht immer ausklammern.
ZEITmagazin ONLINE: Außerdem fermentieren Sie gern. Haben Sie einen Tipp?
Sheldrake: Mit meinem Bruder fermentiere ich Chilis, aus denen wir eine scharfe Würzsoße herstellen. Gerade ist eine ganze Ladung fertig geworden. Was sehr leicht selbst zu machen ist: Kwas, ein ukrainisches fermentiertes Getränk aus Roter Bete. Dafür wird die Bete für mehrere Wochen in einem Behälter gefüllt mit Wasser mit einem zweiprozentigen Salzgehalt gelagert und anschließend rausgenommen. Was übrig bleibt, ist ein sehr reiches, lebendiges Ferment, man kann es mit anderen Getränken mixen. Für mich ist das auch eine Art Wissenschaft zum Trinken.
ZEITmagazin ONLINE: Wie essen Sie Pilze am liebsten?
Sheldrake: Da bin ich ganz simpel, in der Regel schwenke ich sie einfach nur mit etwas Knoblauch in einer Pfanne. Pilze pflanze ich auch zu Hause immer mal wieder selbst, in den Supermärkten ist die Auswahl ja leider begrenzt. Ich züchte dann Austernpilze, Löwenmähne und Shiitake. Das geht total einfach. Die schmecken fabelhaft. Im Herbst kann ich Pilzsuppe nur empfehlen.Zum Original