In über 90 Prozent aller Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind die Betroffenen weiblich. Bei Übergriffen geht es auch um das Ausnutzen von Macht. Auch gegen Prominente werden Vorwürfe erhoben, zuletzt gegen Till Lindemann, den Sänger der Band Rammstein: Mehrere Frauen haben gegenüber verschiedenen Medien darüber gesprochen, manche berichten von verstörenden Erfahrungen. Auch ZEIT ONLINE hat dazu berichtet. Die Autorin Katherine Angel verrät, warum es beim Sprechen über Sex nicht nur um Konsens gehen sollte und wo die weibliche Lust in den Debatten bleibt.
ZEITmagazin ONLINE: Frau Angel. Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel Morgen wird Sex wieder gut. Was ist schlecht am Sex heute?
Katherine Angel: Ich finde es ziemlich alarmierend, wie viele Frauen bei aktuellen Studien angeben, Sex als etwas Schmerzvolles zu erleben, vom Gender Orgasm Gap brauche ich gar nicht erst anzufangen. Anscheinend ist es immer noch schwieriger für Frauen, Lust beim Sex zu empfinden. Parallel ist Einvernehmlichkeit zu dem vorherrschenden Konzept geworden, durch das entschieden wird, wie wir Probleme mit der Sexualkultur lösen. Ich habe dazu gemischte Gefühle.
ZEITmagazin ONLINE: Sie sprechen von unserer Gegenwart sogar als "Zeitalter des Konsenses".ZEITmagazin ONLINE: Was stört Sie also am Konzept der Einvernehmlichkeit?
Angel: Konsens setzt eine absolute Klarheit voraus: nämlich zu jeder Zeit zu wissen, was man möchte. Obwohl ich denke, dass sich Klarheit und Kommunikation generell positiv auf die sexuellen Beziehungen auswirken, halte ich Konsens insofern für problematisch, als es die Frauen in die Pflicht nimmt, sich selbst und ihr Verlangen zu kennen, stark und selbstbewusst zu sein. Und zwar in jedem Moment. In der Realität sieht das nun mal nicht immer so aus. Zumal Männern damit die Verantwortung abgenommen wird, sich wirklich auf ihre Sexualpartnerin einzustellen und sich für ihre Lust zu interessieren. Auch auf die Zwischentöne zu hören.Angel:
Ein Bestandteil der feministischen Bewegung ist die Anerkennung, dass es
wichtig ist, was eine Frau zu sagen hat. Unsere Autonomie und unsere
Handlungsfähigkeit sind natürlich genau das, was wir betonen müssen. Die
Frage lautet: Wer schützt die schüchternen Frauen? Die unsicheren? Die,
die ihre Meinung ändern? Auch unsichere Frauen haben das Recht auf
sicheren Sex. Und es ist prekär, dass gerade ihre Unsicherheit später
gegen sie verwendet werden kann.
ZEITmagazin ONLINE: Im Falle von Rammstein wurde den Frauen in den sozialen Medien und Kommentarspalten vorgeworfen, naiv zu sein: Sie hätten ja wissen müssen, was sie auf diesen After-Show-Partys erwartet.
Angel: Das ist klassisches Victim Blaming – anstatt den Fokus
auf das Verhalten des Mannes zu legen und der Kultur, die sein
Verhalten ermöglicht. Mit solchen Aussagen wird der Spieß wieder umgedreht: Frauen sind selbst
schuld an sexuellen Übergriffen, denn sie wollten das so. Obwohl sie vielleicht Signale
gegeben hat, die auf anderes hindeuten. Oder sich später umentschieden
hat.
ZEITmagazin ONLINE: Von Männern hört man, sie seien verunsichert und wüssten nicht mehr, was sie dürfen oder nicht.
Angel: Dieser Punkt kommt immer wieder hoch, wenn es um Fälle von MeToo geht. Männer sagen, sie können nicht mal mehr einen Abschiedskuss geben. Frauen sagen: Ach komm schon, wir wissen doch alle, was der Unterschied ist zwischen einem Übergriff und einer unverfänglichen Geste. Ich habe dennoch bis zu einem gewissen Grad Verständnis für die Angst der Männer, angezeigt zu werden. Es gibt eben parallel eine neue Form der Macht, die von den sozialen Medien ausgeht und die Kraft hat, jemanden öffentlich zu beschuldigen.
ZEITmagazin ONLINE: Bislang reichte ein Post einer einzelnen Frau ja nicht gerade aus, um eine Welle von MeToo auszulösen. Und im Falle von Harvey Weinstein brauchte es erst eine relativ bekannte Schauspielerin, die den Anschuldigungen Gewicht und ein Gesicht gab.
Angel: Stimmt. Das Verrückte im Fall Harvey Weinsteins ist, dass ich von ihm bereits gehört hatte, als ich in meinen Zwanzigern war. Jetzt bin ich Ende 40. Es war bekannt, dass er ein tyrannischer Sadist ist. Aber es ist einfach so unglaublich, wie viele Frauen sich melden mussten, bis etwas passierte. Es ist, als wäre das Wort einer Frau nicht genug. Und es gibt eine Tendenz, auch hundert Frauen nicht zu glauben.
ZEITmagazin ONLINE: Dabei sollte die Unschuldsvermutung ja auch für potenzielle Survivors gelten. Ein Machtgefälle zeigt sich da auch juristisch. Aktuell läuft eine Spendenkampagne, welche Frauen, die sich in Sachen Rammstein öffentlich äußern, die Anwalts- und Verfahrenskosten finanzieren soll.
Angel: Auch unsere Justizsysteme sind ja zutiefst von patriarchalen und kapitalistischen Strukturen geprägt. Juristischen Beistand, der gegen Topanwälte mächtiger Männer ankommt, muss man sich leisten können.
ZEITmagazin ONLINE: Kann jemand so Mächtiges wie Harvey Weinstein überhaupt einvernehmlichen Sex haben?
Angel: Das ist eine wirklich interessante Frage. Ich denke, es kommt darauf an, wie man das definiert. Einige Frauen behaupteten, sie hätten kein Problem damit, zu sagen: "Hey, ich blas dir einen, dafür besorgst du mir einen Job." Aber sind diese Frauen wirklich frei? Oder haben sie eben gelernt, im Patriarchat zu funktionieren?
ZEITmagazin ONLINE: Ein anderes Beispiel: Sie zitieren in Ihrem Buch Anwälte des mittlerweile wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger verurteilten Rappers R. Kelly. Während des Verfahrens behaupteten sie, Kelly würde Frauen nicht missbrauchen, weil er "ein Rockstar ist. Er muss keinen nicht einvernehmlichen Sex haben."
Angel: Nur weil es Frauen gibt, die mit ihm schlafen wollen, heißt das nicht, dass es keine Frauen gibt, die das nicht wollen. Ich halte die Aussage auch deshalb für so gefährlich, weil sie diese alte Vorstellung beinhaltet, dass Männer Sex brauchen, um nicht gewalttätig zu werden, und andersherum Männer, die Sex bekommen, keine Übergriffe begehen. Wenn wir so argumentieren, ist es ein einfacher nächster Schritt, die Pflicht der Frauen darin zu sehen, Sex mit Männern zu haben. Um zu verhindern, dass er sie – oder eine andere Frau – missbraucht.
ZEITmagazin ONLINE: Wo bleibt bei alldem die weibliche Lust!
Angel: Zunächst: Ich spreche viel von Frauen und Männern in heterosexuellen Begegnungen, natürlich gibt es Sex in allen möglichen Konstellationen, wenn auch gewisse Machtdynamiken hier besonders deutlich zutage treten. Speziell beim Thema Lust geht es – für alle Beteiligten – vor allem auch darum, zu verstehen, dass sie etwas Fluides ist. Sie kann in einem Moment kommen, im anderen wieder gehen. Und oft wissen wir eben vorher nicht immer, was wir wollen, was uns gefällt. Sexuelles Verlangen ist nicht unbedingt etwas, das man kennt und das sich mitteilt. Das macht es so schwierig, Konsens auf jeden sexuellen Moment zu übertragen.
ZEITmagazin ONLINE: Sie meinen: Sex kann auf dem Papier einvernehmlich sein, aber dennoch eine unangenehme oder schlechte Erfahrung.
Angel: Da müsste man ebenfalls darüber reden, was wann und wo als einvernehmlich gilt und wer darüber entscheidet. Es gibt Frauen, die sagen zum Beispiel oft nicht klar Nein, obwohl sie gerade etwas als unangenehm empfinden oder nicht wollen. Weil sie Angst haben vor der potenziellen Gewalt ihres Gegenübers. Weil sie sich schämen, weil sie gar nicht so genau wissen, dass das, was ihnen gerade passiert, eigentlich nicht okay ist. Vielleicht wollen sie auch nicht unhöflich sein.
ZEITmagazin ONLINE: Nicht unhöflich?
Angel: Als Frauen haben wir gelernt, die Sexualität des Mannes in den Fokus zu nehmen, nicht die eigene. Sex hat immer mit Macht zu tun – und die ist in unserer sexistischen Gesellschaft ungleich verteilt. Das führt eben auch dazu, dass Frauen häufiger sexuelle Gewalt erleben. Das zeigt sich klar in Statistiken.
ZEITmagazin ONLINE: Sie zitieren Michel Foucault mit den Worten: "Glauben wir nicht, dass man zur Macht Nein sagt, indem man zum Sex Ja sagt."
Angel: Bereits der Titel meines Buches ist ein Zitat von Michel Foucault, der sich in den Siebzigern kritisch mit den Hoffnungen der sexuellen Revolution auseinandersetzte, indem er anzweifelte, dass Sex und das Sprechen über Sex automatisch zur politischen Emanzipation führen. Weil die dem Sex zugrunde liegenden gesellschaftlichen Strukturen der Unterdrückung damit ja nicht automatisch verschwinden.
ZEITmagazin ONLINE: Klingt verzwickt.
Angel: Es ist allerdings wichtig, zu erwähnen, dass sich alle Personen in sexuellen Begegnungen verletzlich machen, unabhängig von Geschlecht oder sexueller Orientierung. Allerdings ist das Risiko, das Frauen bei sexuellen Begegnungen in einer sexistischen, patriarchalen Welt tragen, nun mal höher.
ZEITmagazin ONLINE: Auf den Sommer der freien Liebe folgt der Winter der alleinerziehenden Mütter!
Angel: Ich meine nicht nur das Risiko einer potenziellen, vielleicht ungewollten Schwangerschaft: Sobald eine Frau Lust äußert, macht sie sich angreifbar. Weil sie, sobald sie ihre Zustimmung zu etwas gegeben hat, eben nur noch schwer aus einer Situation herauskommt, wenn sie ihre Meinung ändert. Gleichzeitig wird eine Frau, die selbstbewusst zu ihrer Lust steht, oft als unglaubwürdig angesehen. Stellen Sie sich vor, eine Frau verabredet sich auf einer Dating-App für Sex, wird dort aber vergewaltigt. Die Chancen, dass ein Richter der Frau nicht glaubt, dass sie zwar generell Sex wollte, aber nicht diesen, stehen ziemlich hoch.
ZEITmagazin ONLINE: In Ihrem Buch sprechen Sie davon, wie verstörende, vielleicht übergriffige sexuelle Erfahrungen im jungen Alter romantisiert werden als eine Form von schlechtem Sex, die zum Erwachsenwerden irgendwie dazuzugehören scheint.
Angel: Ja, im Grunde ist es das, was wir sagen. Ich bin mir sicher, dass ich sexuelle Erfahrungen gemacht habe, an die ich vor 20 Jahren nicht weiter dachte, heute sind sie mir hingegen präsent im Kopf.
ZEITmagazin ONLINE: Was meinen Sie, warum ist das so?
Angel: Ich glaube, wir waren so daran gewöhnt, die Welt durch den männlichen Anspruch auf den weiblichen Körper zu sehen. Dass wir Situationen heute anders bewerten, zeigt natürlich auch, dass sich schon einiges verbessert hat. Leider glaube ich, dass eine Art Schock oder Unbehagen gegenüber sexuellen Erfahrungen nicht immer vermeidbar ist, gerade wenn man etwas das erste Mal ausprobiert.
ZEITmagazin ONLINE: Wenn "Nein heißt Nein" und "Ja heißt Ja" nicht automatisch zu gutem Sex führt, was könnten wir tun, um ihn zu verbessern?
Angel: Es wird viel über Zustimmung gesprochen, aber wenig über Vergnügen. Mehr Kommunikation ist immer wünschenswert. In meinem Buch habe ich aber auch versucht, darüber nachzudenken, wie wir die Verletzlichkeit, die uns alle beim Sex begleitet, zu einem erotischen Trumpf machen können, ohne etwa weibliche Verletzlichkeit zu fetischisieren. Menschsein bedeutet, verletzlich zu sein. Wir sind eben von der Liebe, der Fürsorge und der Aufmerksamkeit anderer abhängig. Und darin kann ein ethisches Potenzial liegen. Wenn wir die Verletzlichkeit der einen und des anderen anerkennen, kümmern wir uns vielleicht mehr umeinander, sind mehr aneinander interessiert – auch an den Begierden oder Sehnsüchten des Gegenübers.
ZEITmagazin ONLINE: Ist das möglich, wo es so große Machtunterschiede gibt?
Angel: Ich weiß es nicht. Als Gesellschaft haben wir Machtungleichgewichte kollektiv erotisiert. Das spiegelt auch die kapitalistische Ordnung wider. Bei Männern idealisieren wir traditionell Geld und Macht. Das kann man auf einer individuellen, lustvollen Ebene ja auch als sexy empfinden. Will man das moralisieren? Ich würde sagen, es bleibt erst mal kompliziert.
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