LISA ANGERMANN
„Frieda“, Leipzig
Wenn man, wie Lisa Angermann, im Feinkostladen der Mutter aufwächst, ist der Weg in die gehobene Gastronomie ja praktisch vorgezeichnet. Angermann, Jahrgang 1991, absolvierte nach einem Vorbereitungsjahr bei Spitzenköchin Cornelia Poletto in Hamburg im Falco in Leipzig ihre Köchinnenausbildung. Im Restaurant Pilot trat sie ihre erste Stelle als Küchenchefin an, führte den elterlichen Genussbauernhof in Baldenhain bei Gera, gewann 2017 die Kochshow „The Taste“, tritt seitdem regelmäßig in Fernsehformaten auf und schreibt Kochbücher. Gemeinsam mit ihrem Partner Andreas Reinke hat sie 2018 in Leipzig das Frieda eröffnet, 2021 gab es den ersten Stern. Angermann ist die derzeit einzige Sterneköchin Ostdeutschlands und trägt dazu bei, die immer noch niedrige Sterneanzahl im Osten zu erhöhen. Sie geht dabei ihren eigenen Weg – und neue Wege.
Da wäre die Doppelspitze: Den Chefinnenposten in der Küche teilen sich Angermann und Reinke. Traditionell gibt es im Sternebetrieb nur einen oft vergötterten Küchenchef. Im Frieda setzt man auf Teamgeist. Den Küchenclan bezeichnet Angermann als „Familie“. Auf in der Gastro unübliche humane Arbeitszeiten von acht bis neun Stunden am Tag wird geachtet.
Das Restaurant selbst ist auf urbane Art schick, der Service lässig. Auf Tischdecken wird verzichtet. Und es darf auch mal laut werden. Wer will, leckt die Teller ab. Das Publikum besteht genauso aus jungen „Foodies“ wie aus Menschen aus der Nachbarschaft. Damit das auch so bleibt, achten Angermann und Reinke darauf, preislich nicht abzuheben. Den frischen Wind und das zukunftsgewandte Denken spürt man auch auf den Tellern.
Die Gerichte sind oft geprägt von den Geschmäckern aus Angermanns Kindheit in Sachsen und Thüringen. Die dortige Küche bezeichnet sie als „deftig“, sie sagt: „Hier wird pausenlos gegrillt.“ Klassiker wie das Nackensteak oder einen Zwiebelrostbraten vom Grill werden im Frieda genauso auf Sterneniveau interpretiert wie ein in Sachsen beliebter Karpfen, der hier traditionell und saisonal oft auf den Tisch kommt.
Auf die besonders klassischen Produkte, etwa Hummer, wird im Frieda weitgehend verzichtet. Das hat auch wirtschaftliche Gründe: Lieber wolle man gut haushalten, als „am Monatsende in Schönheit zu sterben“. Im Frieda setzt man sowieso lieber auf Regionalität und Saisonalität und frische Kräuter aus dem eigenen Restaurantgarten. Außerdem gibt es ein vegetarisches Menü, das sich gleichwertig neben dem klassischen Menü behauptet.
Allen Gerichte haben gemeinsam, dass sie „heiß sein sollen“, so Angermann – das Garen bei Niedrigtemperatur, Lauwarmes, das in der Spitzenküche eine Weile angesagt war, findet man in Friedas gehobenem „Comfort Food“ nicht. Sie sagt: „Essen muss glücklich machen.“ Trotz Wohlfühlessen ist ein Menü im Frieda weder laut noch schwer noch intensiv, sondern setzt auf die leisen Noten, die als angenehmer Geschmacksstrom im Gaumen rauschen.
DALAD KAMBHU
„Kin Dee“, Berlin
Ein thailändisches Sternerestaurant? Unter all den traditionell französischen Gourmettempeln ist das nicht nur hierzulande eine echte Ausnahme. Im 2017 eröffneten Kin Dee, zu Deutsch „Gut essen“, erkocht Dalad Kambhu seit 2019 einen Michelin-Stern. Sie beweist damit, dass Spitzenküche auch anders geht, und zeigt, was moderne thailändische Küche alles kann.
Kambhu, Jahrgang 1986, die in Thailand in einer Foodie-Familie aufwuchs und dann zehn Jahre in New York lebte, dort studierte und modelte, bevor sie nach Berlin zog und quasi als Quereinsteigerin das Kin Dee eröffnete, kocht die Gerichte ihrer Kindheit auf verfeinerte Weise und mit weitgehend regionalen Zutaten. Ihr Fleisch bezieht sie von Biohändlern aus dem Umland. Mango und grüne Papaya ersetzt sie schon mal durch Apfel oder Kohlrabi. „Fusion“ sei ihre Art zu kochen deshalb nicht: Mit Curry- und Chilipasten, Fischsaucen und Gewürzen wie Zitronengras oder Kaffirlimette ist ihre Geschmackswelt klar in Thailand verortet. Alles, was sich selbst herstellen lässt – etwa die Reisnudeln oder Chili-Pasten –, wird im Kin Dee frisch gemacht. Einige Zutaten wie die Sojasaucen sowie viele der Gewürze, die es in Deutschland nicht oder lediglich in mangelhafter Qualität zu kaufen gibt, importiert Kambhu aus der früheren Heimat.
Auch die Art zu speisen – die Gerichte werden, wie in Thailand üblich, in die Tischmitte für alle zum Teilen gestellt – ist in der Sterneküche mit ihren oft extravaganten Tellern ein Novum. Die Küchenchefin sagt: „Mit dem Kin Dee möchte ich auch meine Kultur bewahren.“ Für Kambhu bedeutet das nicht, in der Vergangenheit stehen zu bleiben. Im Gegenteil haben ihre Menüs, genauso wie das Interieur des Restaurants und die thailändische Küche selbst, internationalen Einschlag.
Asiatische Klischees und als falsche Authentizität missverstandenen Kitsch sucht man im Kin Dee dabei genauso vergebens wie Stäbchen. Daran haben sich ihre Gäste schon gewöhnt. Laut Kambhu essen mittlerweile sogar viele Veganer bei ihr Gerichte, die mit Fischsauce zubereitet wurden – in der thailändischen Küche eine nicht verhandelbare Zutat.
Kambhu sieht sich übrigens nicht nur bei der Bewahrung und Weiterentwicklung thailändischer Esskultur, sondern auch bei der Förderung und Sichtbarmachung von Frauen in der Gastronomie in der Verantwortung, die immer noch ein stark von Männern dominiertes Gewerbe ist: Sie ist eine von nur 14 Küchenchefinnen in den 310 deutschen Restaurants, die 2021 mit einem, zwei oder drei Sternen ausgezeichnet wurden. Das macht eine Quote von sehr bescheidenen rund 4,5 Prozent.
Im Kin Dee arbeiten derzeit ausschließlich Frauen in der Küche, darunter viele Thailänderinnen. Das sei zwar nicht in Stein gemeißelt – dass sie gezielt nach weiblichem Nachwuchs Ausschau halte, sei aber eine sehr bewusste Entscheidung. Und ein Schritt hin zu einer vielfältigeren kulinarischen Zukunft.
HEDI RINK
„Urgestein“, Neustadt an der Weinstraße
Ausbildung im Sternebetrieb, Lehrjahre bei kulinarischen Großmeistern, und irgendwann wird das eigene Restaurant eröffnet: So sieht der Weg in Deutschlands Spitzenküchen oft aus. Dass Hedi Rink, Jahrgang 1972, seit 2016 als Küchenchefin im Restaurant Urgestein in Neustadt an der Weinstraße einen Michelin-Stern erkocht, ist insofern beachtenswert. Immerhin hat sie den Weg nach oben als halbe Quereinsteigerin geschafft. Die Ausbildung zur Köchin im Berghotel Mohrweiler brach sie für eine Restaurantfachfraulehre ab. Der Service war damals für Rink die spannendere Stelle, Gastronomie zu erleben. Eisbomben mit Wunderkerzen, Flambieren von Speisen, ein ganzer Hummer, der vor den Augen der Gäste ausgelöst wird – sie sagt: „Damals passierte wahnsinnig viel am Tisch.“
Zwanzig Jahre tingelte Rink durch die Welt. Sie arbeitete auf noblen Kreuzfahrtschiffen genauso wie den Tagesdampfern in der Provinz; im Casino, in österreichischen Bergrestaurants und zwischendrin doch kurz in der Küche: Bei Gosch auf Sylt grillte sie Fisch. In der Zeit lernte sie die Highs und Lows der Gastronomie kennen, verstand, was es bedeutet, für 300 Gäste verantwortlich zu sein oder nur für drei. In der Küche des Urgestein im Steinhäuser Hof landete sie eher aus Zufall. Sie sollte dort ihrer früheren Ausbilderin – und späteren Schwiegermutter – über die Schulter gucken. Und brachte von ihren Wanderinnenjahren allerhand neue Ideen in die bodenständige Landgasthofküche ein. Als die Schwiegermama aufhörte, stellte Rink mit ihrem Mann Hanno, mit dem sie heute Restaurant und Gasthof betreibt, zunächst den ambitionierten Benjamin Pfeifle als Küchenchef ein, mit welchem sie erste Schritte in die gehobene Gastronomie gingen. 2013 erkochte der dort den ersten Stern. Rink schaute ihm zunächst über die Schulter. Als er ging, um sein eigenes Restaurant zu eröffnen, hatte sie genügend Vertrauen, die Position selbst auszufüllen.
An der Sterneküche schätzt sie die Präzision, das filigrane Arbeiten mit Pinzette und Lineal. Rink ist Technikerin durch und durch. An neuen Rezepten tüftelt sie oft wochenlang, dann verwandelt sich ihr Restaurant in ein Labor, in dem jeder Testgang wie ein Versuchsergebnis akribisch festgehalten wird. In Rinks reiner Frauenküche, in der sowieso die leisen, respektvollen Töne regieren, könnte man in solchen Momenten eine Stecknadel fallen hören.
Denn Rink kommt oft auf ungewöhnlichen Wegen zu ihrem Ziel. Klassische Produkte der französischen Sterneküche, etwa Hummer oder Leberpastete, bearbeitet sie mit Techniken oder kombiniert sie mit Zutaten, vor denen andere zurückschrecken würden. Sie sagt: „Bei mir ist alles immer wieder anders.“ Einen roten Faden gibt es in ihrer Küche dennoch: Rink ist eine Meisterin darin, verschiedene Texturen auf einen Teller zu bringen. Knusprig, flüssig, fest, glibberig, geeist: Wo früher im Service viel passierte, findet das Spektakel heute im Gaumen statt.
DOUCE STEINER
„Hirschen“, Sulzburg
Es kommt nicht von ungefähr, dass man beim Betreten des Hotels und Restaurants Hirschen das Gefühl hat, man stünde direkt in Douce Steiners Wohnzimmer. Im 500 Jahre alten Fachwerkhaus in Sulzburg ist Steiner, Jahrgang 1971, aufgewachsen und hat die Spitzenküche mit dem Kinderbesteck gelöffelt. Schon ihr Vater erkochte im eigenen Haus zwei Sterne. Er bildete seine Tochter selbst aus, dann zog es sie in Drei-Sterne-Etablissements, wo sie bei Harald Wohlfahrt und Georges Blanc weiter lernte. Heute ist sie selbst Küchenchefin – und Zwei-Sterne-Köchin – im Hirschen.
Wer im Mehrgenerationenhaus übernachtet, kann den Eltern noch am Frühstückstisch begegnen. Sie lernte einst beim Vater, gerade hat ihre Tochter Justine ihre Ausbildung bei ihr abgeschlossen. Ihr Mann steht seit 25 Jahren in der Küche an ihrer Seite. Kulinarik ist der Lebensinhalt der Familie. Steiner sagt: „Ich habe in meinem Leben noch nie schlecht gegessen.“ Und: „Entweder ich koche auf diese Art. Oder gar nicht.“
Ein Besuch bei Douce Steiner ist ein Gruppentreffen aller Sinne. Sehen, schmecken, riechen, sogar hören: Ihre Menüs sind eine körperliche, eine künstlerische Erfahrung. In Handwerk und Idee folgt sie den Prinzipien der klassischen französischen Sterneküche, hat aber wie eine startende Rakete auf dem Weg zum Firmament alles, was überflüssig ist, abgeworfen.
Die schweren Saucen voll Butter und Sahne sind Essenzen, Fonds und Bouillons gewichen. Ihre Speisen haben eine Leichtigkeit, sie sollen gesund sein und saisonal. Unter den sieben Gängen des Menüs „Douce“ finden sich immer auch zwei vegetarische. Fleisch und Fisch müssen gut gelebt haben, um hier im Hirschen auf dem Teller zu landen.
Weil Steiner die Kunst des Weglassens beherrscht, gibt es pro Gang stets eine Hauptdarstellerin. Alle anderen Zutaten und Aromen sind darauf ausgelegt, dem Star zuzuspielen. Einzelnen Komponenten gewährt Steiner eine gewisse Freiheit der Form auf dem Teller. Hier wird nichts allzu streng ins Raster gepresst, im Gegenteil behält alles eine Flexibilität und Schwung. Steiner hatte in ihrer Jugend für einen Moment überlegt, Tanztheater oder Kunst zu studieren. Beides, das Künstlerische und auch das Choreographische, hält heute Einzug in ihre Menüs.
Steiner selbst ist in ihrer Küche die Hauptdarstellerin – aber ganz ohne Schreckensregiment. In ihren Lehrjahren in Frankreichs Küchen hat sie „Dinge erlebt, die unter der Gürtellinie waren“. Ein Klima gegenseitigen Respekts ist ihr in ihrem eigenen Umfeld wichtig. Mit der Pandemie haben sie den Mittagstisch gestrichen, das Arbeiten sei seitdem angenehmer. Es bleibe mehr Zeit für den Gast. Steiner liebt den Kontakt am Tisch, den Austausch mit ihren Besuchern. Und Tischkultur! Weiße Tischdecken, weißes Porzellan und besondere Objekte am Platz, die man sonst nirgendwo findet. Auch das ist im Hirschen Teil des Erlebnisses.