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Wie sexistisch waren die Neunziger? / F.A.Z

Eine 22 Jahre alte Praktikantin verliebt sich in ihren sehr mächtigen, deutlich älteren, leider verheirateten Chef, es beginnt eine zweijährige heimliche Liaison. Alles fliegt auf und wird zum Skandal, den er übersteht. Sie wird öffentlich als Hure bezeichnet, spielt mit Selbstmordgedanken und findet bis heute keinen richtigen Job. Eine andere junge Frau wird mit 19 von ihrem Partner zu sexuellen Handlungen vor der Kamera überredet. Einige Jahre später veröffentlicht und vermarktet er den Amateurporno gegen ihren Willen, er wird in den Vereinigten Staaten zum bestverkauften Video des Jahres. Sie selbst wird öffentlich als Flittchen und Lügnerin dargestellt, die mit dem Porno ihre Karriere ankurbeln wollte. Ein Popstar-Paar trennt sich nach vierjähriger Jugendliebe; er macht aus ihr eine böse Schlampe, die schon längst keine Jungfrau mehr sei und ihn betrogen habe, singt darüber und kurbelt damit seine Solo-Karriere an. Die Boulevardpresse stellt sich auf seine Seite, ihr hingegen wird die Glaubwürdigkeit abgesprochen, ihre Karriere beginnt zu bröckeln.


Was sich liest wie gruselige Dystopien, sind wahre Geschichten - von Monica Lewinsky, Paris Hilton und Britney Spears aus den späten 1990er und frühen 2000er Jahren. Aus einer Zeit also, als die mediale Pirsch auf Prominente und Personen des öffentlichen Lebens zum gigantischem Geschäft wurde, aus der eine regelrechte Kultur der Erniedrigung erwuchs. Paparazzi, die die Boulevardpresse, aber auch die seriösen Zeitungen fütterten wie Raubtiere, jagten damals am liebsten junge Frauen. Mittlerweile spricht man von „Slut-Shaming", Einverständnis („Consent"), Online-Belästigung („Online Harassment"), „Cyber Bullying" oder „Revenge Porn". Viele der hier beschriebenen Fälle werden im englischsprachigen Raum diskutiert, bis heute gibt es im Deutschen kaum Worte für das, was den Frauen passierte. Manche von ihnen haben sich bis heute nicht davon erholt.


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