Bad Harzburg. Auf 503 Kilometern verläuft die Bundesstraße 6 von Bremerhaven nach Görlitz. Knapp die Hälfte der Strecke führt durch Niedersachsen. Zu Zeiten der deutsch-deutschen Teilung endete die B6 in Eckertal, einem Ortsteil von Bad Harzburg. In der DDR lief sie als Fernstraße 6 weiter. Im ersten Teil unserer Serie über Menschen an der B6 erzählt der ehemalige Bundesgrenzschutzbeamte Lothar Engler, wie er half, die innerdeutsche Grenze aus dem Weg zu räumen.
Ein Mann sitzt rittlings auf einer etwa drei Meter hohen Wand aus weißem Wellblech. Unter ihm eine Wiese, über ihm Baumgipfel, vor ihm eine Gruppe Menschen. Man kann sie nicht sehen. Sie stehen hinter der Kamera, die den Kletterer filmt. Es ist nachmittags, am 11. November 1989. Norbert Heindorf ist dabei, von der DDR über die innerdeutsche Grenze zu klettern. Werner Tharann, der im Westen steht, filmt ihn dabei. Er ist von Bad Harzburg aus an die Grenzsperranlage in Eckertal im Nordharz gefahren - in der Hoffnung, dass sich auch hier, zwei Tage nach dem Berliner Mauerfall, die Grenze öffnet.
"Heute hat der Bundesgrenzschutz wohl seinen letzten Arbeitstag", ruft einer der Zuschauer. Heindorf hat sich inzwischen über die Barrikade geschwungen, am Boden stehend beginnt er, an einer Schraube am oberen Ende der Wand zu drehen. Ein weiterer Mann klettert scheinbar mühelos über das Wellblech. Plötzlich öffnet sich ein Teil der Wand wie eine Tür, eine Horde Menschen strömt hindurch. Die Menge auf der anderen Seite jubelt.
"Als ob es erst gestern gewesen wäre", kommentiert Norbert Heindorf die Filmszene. Er und sein Schwager hatten sich am 11. November 1989 nach Stapelburg aufgemacht, dem Grenzort auf der Ostseite. Im Radio war durchgesagt worden, dass die Grenze offen ist. Die beiden Männer packten Werkzeuge, Klappstühle und Kaffee in ihren Trabbi, erzählt Heindorf. Bevor sie die Mauer zerlegten, machten sie auf dem 500-Meter-Streifen - dem eigentlich streng bewachten Gebiet vor dem Grenzverlauf - erst einmal eine Kaffeepause, "nur so, aus Protest", sagt der 64-Jährige heute. Der Gedanke, dass es gefährlich sein könnte, in den Grenzsperranlagen zu picknicken, sei ihnen schlichtweg nicht gekommen, erzählt Heindorf: "Wir haben nicht nachgedacht. Sonst hätten wir das nicht gemacht."
Heute sitzt er mit Werner Tharann und zwei weiteren Zeitzeugen im Heimatmuseum in Abbenrode, seinem Heimatort in Sachsen-Anhalt, der nur wenige Kilometer vom ehemaligen Grenzübergang in Stapelburg entfernt ist. Heindorf und Günther Mittrach, der zu DDR-Zeiten als Grenzaufklärer den eisernen Vorhang bewachte, standen im Osten. Tharann und Lothar Engler, der auf der anderen Seite der Mauer für den Bundesgrenzschutz patrouillierte, standen im Westen.
Seit der Wiedervereinigung treffen sich die vier Männer jährlich, um mit etwa hundert anderen der deutsch-deutschen Teilung zu gedenken. Sie geraten ins Schwärmen, wenn sie vom Wochenende um den 11. November 1989 berichten: Heindorf hat zehn D-Mark in die Hand gedrückt bekommen und sein erstes West-Bier getrunken. Tharann lud ein paar DDR-Bürger zum Essen ins nahe gelegene Bad Harzburg ein. Engler erzählt, wie die ehemalige Bundesstraße 6, die von der Grenze aus in die Harz-Stadt führte, das ganze Wochenende lang verstopft war, weil die Menschen zu Tausenden nach Westen strömten. "Die sind alle mit ihren Trabbis rübergefahren", erinnert sich der 58-Jährige.
Engler arbeitet heute für die Bundespolizei in Braunschweig. Zu DDR-Zeiten ging er als Pionier beim Bundesgrenzschutz Streife entlang der Grenze. Viel hätten die westdeutschen Beamten nicht zu tun gehabt, berichtet der Polizist. Es sei vorgekommen, dass sich die Klassenfeinde minutenlang schweigend gegenüberstanden.
Zu seinen Strecken gehörte auch der etwa 15 Kilometer lange Grenzabschnitt zwischen Eckertal und dem nordwestlich vom ehemaligen Grenzort gelegenen Vienenburg. Die Strecke verläuft heute entlang der neuen Bundesstraße 6. Die alte B6 kam von Bad Harzburg im Südwesten und endete in Eckertal - jenseits der Grenze lief sie in der DDR ab Stapelburg als Fernstraße 6 weiter. Die natürliche Grenze bildete das Flüsschen Ecker.
Genau dort, wo der Fluss die Straße kreuzt, hat Lothar Engler geholfen, den Weg zwischen den beiden deutschen Staaten freizumachen. Der Polizist wurde am Nachmittag des 11. November, einem Sonnabend, nach Eckertal gerufen - kurz nachdem Heindorf und sein Schwager über die Mauer geklettert waren. Zu der Zeit hätten die Leute schon "wie die Ameisen" am Flussufer in den Grenzsperranlagen gestanden, erzählt der Polizist. Er schlug die Büsche frei und baute noch in der Nacht eine Behelfsbrücke über den Grenzfluss. "Damit die Menschenströme darüber konnten."
Überall hätten sich Menschen in den Armen gelegen. "In der Nacht auf Sonntag habe ich mehrfach geweint", sagt Engler. Er sei erst in der Nacht zu Montag wieder zu Hause gewesen, denn er und seine Kollegen stellten rund um die Uhr Straßenbeleuchtungen auf und rissen Zäune ein. Unterstützt wurden sie vom Technischen Hilfswerk und der Feuerwehr, die anrückten, um eine größere Brücke mit Stahlträgern zu unterstützen. "Da fuhren schon am nächsten Tag die Autos drüber", erzählt Engler begeistert.
24 Jahre später ist die ehemalige Bundesstraße 6 eine ruhige Umgehungsstraße mitten im wiedervereinigten Deutschland. Der Bunker der ehemaligen Grenzsperranlage ist zugewuchert. Vom Beobachtungsturm ist nur noch ein grasbewachsenes Steinpodest übrig. Auch ein Stück der ehemals weißen Wellblechwand ist noch da. Was im Westen einmal Bundesstraße und im Osten einmal Fernstraße 6 war, wird heute durch eine Brücke verbunden, darunter plätschert die Ecker vor sich hin. Lothar Engler steht auf der Brücke: "Hier hat sich das alles abgespielt."
Er läuft, ohne auf den Verkehr zu achten, von einer Straßenseite zur anderen und zeigt immer wieder auf den Fluss und in das Gebüsch: "Hier war die Brücke, die wir gebaut haben, und da standen Zäune." Der Grenzübergang zwischen Eckertal und Stapelburg sei das einzige Mauerstück außerhalb Berlins, das von Zivilisten geöffnet wurde, sagt Engler. "Ich freue mich, dass ich das erleben durfte", sagt er. "Aber heute interessieren sich nur wenige Leute dafür."
Daran, dass auf dem Parkplatz neben der Umgehungsstraße einmal "die Welt zu Ende war", wie Engler es ausdrückt, erinnert heute ein Denkmal. Ein Museum, das in einer kleinen Holzhütte am anderen Ende des Parkplatzes untergebracht war, ist geschlossen. Wegen fehlender Mittel, sagt Engler. Wer einen Blick durch das Glasfenster in der Tür riskiert, sieht staubige Stapel von Büchern über "Die Geschichte der Grenze" und laminierte Hinweisschilder: "Fotografieren und Filmen nicht gestattet". In der Tür hängt die Flagge der Deutschen Demokratischen Republik, schief und von der Sonne verblasst. Doch wer im ruhigen Tempo über die B6 fährt, kann Hammer und Sichel vielleicht noch erkennen.
Im nächsten Teil unserer Serie besuchen wir Hasede. Die Ortschaft im Landkreis Hildesheim ist seit Jahrhunderten durch den Verkehr an der heutigen B6 geprägt.Zum Original