Brigitte Neumann

Radio- und Printjournalistin, Buchholz

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Rezension

Albert Camus, Der Fall. Neu übersetzt von Grete Osterwald. Rowohlt Berlin. 2023

Rezension für Ö1, Ex Libris. Ausstrahlung: 30.4.2023

 

Anmoderation

Albert Camus war ein Autor stark philosophisch getönter Romane. In seinem Frühwerk „Der Fremde“ von 1942 führt er die existenzielle Unbehaustheit als Preis an, der für ein selbstbestimmtes Leben in der Moderne zu zahlen sei. Im gleichen Jahr erschien auch sein berühmtes Essay „Der Mythos des Sisyphos“. Es handelt davon, dass das Leben tragisch und absurd ist. Der Held Sisyphos wird von den Göttern verurteilt, Tag für Tag einen Stein zum Gipfel zu rollen, nur um zu sehen, dass er wieder zu Tal geht. Thema des zweiten Romans von Albert Camus mit dem Titel „Die Pest“ ist ein „Kollektives Verhängnis“ und die Wahl, die der Mensch hat, sich solidarisch zu verhalten. Der Roman, der mit der Corona-Pandemie zu neuem Ruhm kam, erschien erstmals 1947. Albert Camus erhielt 1957 den Nobelpreis für Literatur. Drei Jahre später kam er bei einem Autounfall ums Leben.

In einer neuen Übersetzung von Grete Osterwald erschien nun Albert Camus‘ dritter und letzter Roman wieder „Der Fall“ – im Original von 1956 „La Chute“, was im Französischen auch „der Sündenfall“ bedeuten kann.

Brigitte Neumann hat ihn gelesen.

 

Manuskript

 

Am Rand des Manuskripts hatte Albert Camus von Hand geschrieben: „Für dieses Portrait eines Helden unserer Zeit habe ich ganz und gar auf Begebenheiten und Merkmale aus eigenen Erfahrungen zurückgegriffen.“ Eine seltsam umständliche Formulierung, falls der damals 43-Jährige sagen wollte, er habe für „Der Fall“ – „La Chute“ aus seinem eigenen Leben geschöpft. Genauso aber wird dieser Satz landläufig interpretiert: Albert Camus, zutiefst erniedrigt vom vernichtenden Verriss seines Werks „Der Mensch in der Revolte“ durch Jean-Paul Sartre, bis dahin sein enger Freund und Weggefährte, sei in sich gegangen und habe dort einen moralischen Morast sondergleichen entdeckt. Seine Doppelzüngigkeit, Heuchelei, gnadenlose Ich-Bezogenheit. Und auf diesem Morast, so die herrschende Sichtweise, sei er, beziehungsweise sein alter ego Clamence, geradewegs bis hinunter in die Hölle geglitten.

Zitat

„Ist Ihnen aufgefallen, dass die konzentrischen Grachten von Amsterdam den Kreisen der Hölle gleichen? Der bürgerlichen Hölle, natürlich von schlechten Träumen bevölkert. Je mehr Kreise man von außen kommend durchquert, desto dichter, desto finsterer werden das Leben und mithin seine Verbreichen. Hier sind wir im letzten Kreis.“

Laut Dante, auf dessen „Göttliche Komödie“ Camus hier anspielt, büßen dort die Verräter, bis zum Kopf in einen eisigen See eingefroren. Wen hat der Pariser Rechtsanwalt Jean-Baptiste Clamence verraten?

„Der Fall“ von Albert Camus ist ein dramatischer Monolog, wie fürs Theater gemacht und zuweilen wird er dort auch aufgeführt. Darin spricht der Anwalt in einer zwielichtigen Amsterdamer Hafenbar zu einem unsichtbaren Unbekannten über sein vergangenes Leben. Sechs Mal verabredet er sich mit ihm. Sein Bericht, der anfangs noch zurückblickt auf berufliche und private Triumphe, wird immer bekenntnishafter. Am Ende beleuchtet Clamence wie in einem Erlösungsfuror nur noch seine eigenen Abgründe und Verfehlungen. Im Kern gesteht er seine Angst vor den Menschen und seine Bemühungen, ihnen überlegen zu sein, das heißt, sie auf Abstand zu halten und für seine Zwecke zu benutzen.

Zitat

„Ich erkannte mir Überlegenheit zu, das erklärte mein Wohlwollen und meine Heiterkeit. Wenn ich mich um andere kümmerte, war es reine Herablassung, in aller Freiheit, und das Verdienst gebührte mir allein: Ich stieg einen Grad höher in der Liebe, die ich mir selbst entgegenbrachte.“

Er argumentiert, dass er als Anwalt so etwas wie der Parasit am Leib des Verbrechers gewesen sei. Er habe vom Abglanz der Prominenz gezehrt, die der Delinquent vorübergehend genieße, heimste aber am Ende alleine die Anerkennung der Gesellschaft ein.

Im Grunde jedoch seien ihm, der nun nicht mehr als Anwalt arbeite, sondern sich höchstens in der Kneipe Geständnisse anhöre, alle und alles gleichgültig, und zwar schon immer.

Zitat

„Im Grunde zählte gar nichts. Krieg, Selbstmord, Liebe, Elend. (...) Ich blieb unbeteiligt. Es glitt ab. Ja, alles glitt an mir ab. (...) Dergleichen bewegte ich mich an der Oberfläche des Lebens, im Reich der Worte gewissermaßen, aber nie in der Realität. All diese kaum gelesenen Bücher, kaum geliebten Freunde, kaum genommenen Frauen! Ich machte Gesten aus reiner Langeweile oder zur Zerstreuung. Die Menschen folgten, wollten sich festklammern, aber da war nichts, und das war das Unglück. Für sie. Denn was mich betrifft, ich vergaß. Ich habe mich immer nur an mich erinnert.“

Clamence mag ein janusköpfiges Scheusal sein; schnell ist man dabei, ihn zu verurteilen. Aber: wie Camus in seiner Nobelpreisrede 1957, ein Jahr nach Erscheinen von „Der Fall“, deutlich gemacht hat, seine Generation hat zwei Weltkriege erlebt und sieht sich nun von der Zerstörung durch Atomwaffen bedroht. Zitat: „Ich denke, dass niemand von uns verlangen kann, optimistisch zu sein.“

Und so ist Clamence eine Figur, die jegliche Gewissheit verloren hat, den Glauben an seine Religion, an die Menschen und an sich. Und was ist mit seinem Glauben an die Freiheit? 

Zitat

„Ich warf dieses Schlüsselwort jedem an den Kopf, der mir widersprach, ich hatte es in den Dienst meiner Begierden und meiner Macht gestellt. Ich murmelte es im Bett in das schlafende Ohr meiner Gefährtinnen, und es half mir, sie sitzen zu lassen.“

Freiheit ist das häufigste Substantiv dieses Romans. Freiheit ist der große Begriff der Existenzialisten, zu denen neben Sartre einmal auch Camus gezählt hatte. Heute wird er eher als Philosoph des Absurden oder als konstruktiver Pessimist gesehen. „Freiheit ist eine Fron“, schreibt Camus in „Der Fall“. Warum? Freiheit ist Einsamkeit, das stete Selbstgespräch und schließlich die Notwendigkeit, ein Urteil über sich selbst zu sprechen. „Das jüngste Gericht?“ so heißt es im Roman. „Es findet jeden Tag statt.“

Zitat

„Wer allein ist, ohne Gott und ohne Herrn, für den ist die Last der Tage fürchterlich. Also muss man sich einen Herrn erwählen, derweil Gott nicht mehr in Mode ist.“

Vielleicht hat er dabei an Jean-Paul Sartre gedacht, der die Freiheit der Wahl allzeit im Munde führte, aber gelegentlich die totalitäre Sowjetunion bewarb.

Von dem Zerwürfnis mit Sartre erholte sich Camus nie wieder, bilanziert die Autorin des Nachworts Iris Radisch, eine ausgewiesene Camus-Kennerin, sinngemäß.

Im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe widerspricht Camus der Annahme, dass er sich in der Figur des Clamence selbst portraitiert habe. Er schreibt: „Das Buch ist in der Tat ein Portrait, aber nicht das Portrait eines Mannes. Es ist die Summe der Verfehlungen unserer Generation in ihrer vollständigen Entwicklung.“

„Der Fall“ von Albert Camus ist ein schmales Prosawerk und eine Zumutung. Ein Roman ohne Boden mit einer einzigen irrlichternden Figur, die sich einmal weigert, das Leben, die Menschen, sich selbst ernst zu nehmen, um im nächsten Moment auf der Suche nach letzten Wahrheiten alles bis auf die Knochen zu entlarven; die sich maskiert, Rollen annimmt, ablegt, um immer frei für die nächste zu sein. In Wirklichkeit ist Clamence viele und dadurch niemand. Da hat Camus einer Figur schlicht zu viel aufgebürdet. Die gut hundert Seiten Monolog sind wahnsinniger als Dostojewskis Kellerlochmonologe, alptraumhafter als Kafkas Urteil, trostloser als Joseph Conrads Herz der Finsternis. Die größte Aufgabe des Lesers ist es, sich davon abzuhalten, das Buch in die Ecke zu werfen. Andererseits steckt „Der Fall“ voller genialer Gedanken, zum Beispiel über den Zusammenhang von Religion und Freiheit. Es ist ausgesprochen lohnend, Camus‘ furchtbarem Helden da zu folgen.  

Und was ist nun vom Streit zwischen Sartre und Camus übriggeblieben? Den einen erinnert man als Ikone eines vergangenen Zeitgeistes, den anderen liest man bis heute, wenn auch in diesem Fall mit Kopfweh.