Endlich Probenpause. Die Stepschuhe klackern über das Parkett, Schirme und Zylinderhüte fliegen in die Ecke: Gülcan, Celeste, Carlos, Yanibel, Wilfried wuseln in ihren Kostümen über die Flure. In einer Stunde wird sich der Vorhang des alten Theaterhauses in Stuttgart- Wangen heben, und 75 Kinder werden ihren türkischen, deutschen, afrikanischen Eltern singend und tanzend die phantastische Geschichte des Kindermädchens Mary Poppins erzählen.
Hier, wo früher Stuttgarts freie Theaterszene ihre Bühnenträume inszenierte, hat 2003 der türkischstämmige Geschäftsmann Bedi Avci zusammen mit seinem Schwiegersohn, dem Politologen Baris Binici, seinen Traum vom kulturellen Miteinander verwirklicht: das "Kulturhaus Arena". Gestern hatten sich 150 Gäste zu einer türkischen Hochzeit versammelt, heute steht das Kindermusical auf dem Spielplan. Zwischendurch präsentieren im Arena schwäbische Weltkonzerne ihre neuen Produkte. Und einmal im Jahr feiert die eritreische Gemeinde Stuttgarts im Kulturhaus ihren Unabhängigkeitstag.
Das Arena soll allen Bürgern offen stehen. Baris Binici: "Unser Ziel ist der grenzenlose, lebendige Dialog der Kulturen." Türken, Menschen vom Balkan, Afrikaner, Russlanddeutsche und Koreaner - an ethnischem Miteinander gibt es mehr, als man es Schwaben auf den ersten Blick zutrauen würde. Stuttgart ist eine Vielvölkerstadt oder, wie es Oberbürgermeister Wolfgang Schuster formuliert, "eine Einwanderungsstadt".
38 Prozent aller Stuttgarter haben das, was Politiker einen "Migrationshintergrund" nennen: Sie oder ihre Eltern stammen aus dem Ausland. In dieser Statistik rangiert Stuttgart noch vor Frankfurt oder Berlin.
Dass unter den Migranten der Stadt Kriminalität und Arbeitslosigkeit seltener vorkommen als anderswo, liegt außer an den guten Wirtschaftsdaten der Boomregion Stuttgart auch daran, dass Politiker aller Parteien schon seit langem mit dem Thema Einwanderer schwäbisch-pragmatisch umgehen. Man müsse nüchtern erkennen, dass schon bald die Mehrheit der Stuttgarter Kinder aus Immigrantenfamilien stammen werde, rechnet der Oberbürgermeister vor. "Wir können es uns gar nicht leisten, diese Familien nicht zu fördern", so Schuster. Schon deshalb nicht, weil ihre Fähigkeiten in den Unternehmen der Region dringend gebraucht werden. Auf dem Flur der BiL - der Bildungs- und Informationszentrum Landhausschule in Bad Cannstatt ist ein Zitat des englischen Komponisten Benjamin Britten zu lesen: "Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Sobald man aufhört, treibt man zurück." Im blaugelben Gebäude direkt neben dem Neckarviadukt bereiten sich 160 Schüler aus sieben Nationen auf das Abitur und die Mittlere Reife vor. Viele Dinge, die an den staatlichen Schulen im Land längst nicht mehr selbstverständlich sind, gehören in der türkisch geführten Privatschule zum Standard.
Mädchen und Jungen - egal ob Muslime oder Christen - gehen gemeinsam zum Schwimmunterricht und reisen ins Landschulheim. Auf dem Schulhof wird, selbstverständlich!, Deutsch gesprochen. "Die Regeln ganz sind klar", sagt Schulleiter Muammer Akin. Man versteht sich nicht als Türkenschule.
Noch stammt die Mehrheit der Schüler aus türkischen Familien, obwohl sich Akin darum bemüht, eine ganz normale deutsche Privatschule aufzubauen. Bis zu 210 Euro im Monat zahlen viele der türkischstämmigen Eltern, weil sie hoffen, dass hier in kleinen Klassen ihre Kinder durch ein besonderes pädagogisches Konzept besser gefördert werden. Der 37-jährige Akin ist über den zweiten Bildungsweg Schulleiter geworden. Nach der Hauptschule arbeitete er als Mechaniker bei Bosch, holte sein Abitur nach, studierte Pädagogik.
Mit Hilfe eines pensionierten Schulrats baute Akin seine staatlich anerkannte Privatschule auf und ist also auch Unternehmer. Akin: "Ich habe in Stuttgart viele Chancen bekommen und die sollen meine Schüler auch haben."
Oberbürgermeister Schuster: "Wir waren und sind eine Einwanderungsstadt"Der Vorgänger von Oberbürgermeister Schuster war es, der fast schon legendäre Manfred Rommel, der für ein liberales und weltoffenes Stuttgart kämpfte, als das noch nicht zum guten Ton gehörte. Er deckte Ende der siebziger Jahre die Bühnenprovokationen des damals noch jungen und wilden Intendanten Claus Peymann am Schauspiel Stuttgart gegen das biedere Kulturverständnis der Landesregierung unter Hans Filbinger. Er sorgte dafür, dass die RAF-Terroristen Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin nach ihrem Selbstmord in den Zellen von Stammheim ein Begräbnis auf dem Stuttgarter Waldfriedhof erhielten. Und als im Sommer 1989 der Volkszorn hochschlug, weil ein Schwarzafrikaner auf der Gaisburger Brücke zwei Polizisten erstochen hatte, sagte Rommel jenen Satz, der auch heute noch manche Wahlkampagne zu Ausländergewalt schnell versachlichen könnte: "Es hätte auch ein Schwabe sein können."
Das war die Zeit, in der Ray Lynch in einer Discothek immer wieder der Einlass verweigert wurde. "Stuttgart war damals noch eine ganz andere Stadt", sagt Lynch und lacht. Der Amerikaner kam in den Sechzigern zu den US-Truppen nach Stuttgart. Er arbeitete als Tänzer und Entertainer in verschiedenen Clubs der Stadt, doch diese eine Discothek blieb dem Afroamerikaner verschlossen. In seinem Ärger schrieb er einen Brief an das Rathaus, in dem er sich über die rassistische Haltung des Türstehers beschwerte. Zu Lynchs großer Überraschung antwortete die Verwaltung, lud ihn zum Gespräch ein. Was die Hauspolitik der Disco betraf, konnte die Stadt damals nicht helfen, aber kurz danach war Lynch stadtbekannt und in jedem Lokal der Stadt ein gern gesehener Gast. 1975 gründete Ray Lynch die inzwischen legendäre "New York City Dance School" und brachte mit seinem mitreißenden Temperament den Stuttgartern den Steptanz bei: Der swingende Beitrag des New Yorkers, die Stadt ein Stück weltläufiger zu machen.
Heute ist Stuttgart als Standort internationaler Konzerne bekannt. Für ihre ideologiefreie Integrationspolitik wurde die Stadt vor einigen Jahren von der UNESCO ausgezeichnet. Denn hier gibt es nicht einen einzelnen Ausländerbeauftragten, der dem Sozialamt zugeordnet ist - hier ist gleich eine ganze "Stabsabteilung für Integrationspolitik" dem Oberbürgermeister unterstellt. Der Ausländerbeirat heißt in Stuttgart "Internationaler Ausschuss" und ist weit mehr als eine Alibi-Veranstaltung. Alle Themen, die Migranten betreffen, muss jener Ausschuss beraten und dann dem Stadtrat eine Entscheidungsempfehlung geben. Gewählt werden die Ausschussmitglieder freilich nicht, sie werden berufen. Denn wer sich als Ausländer politisch engagieren will, soll wie jeder Deutsche auch als Stadtrat kandidieren.
So wie Ergun Can. Korrekt frisiert wartet er bei Radlermaß und Kässpätzle im Rathauskeller. Seit bald acht Jahren ist er Vorsitzender des Ortsvereins in Degerloch, seit 2004 sitzt er für die SPD im Stuttgarter Stadtrat. Seit er auch noch Vorsitzender des parteiübergreifenden "Netzwerk türkischstämmiger Mandatsträger" ist, wird er sowohl im Kanzleramt als auch in Brüssel empfangen: Wenn Stuttgart eine Galionsfigur für seine erfolgreiche Integrationspolitik bräuchte, wäre Can genau der Richtige. Er kam mit fünf Jahren aus Istanbul nach Deutschland, wuchs im Schwarzwald auf, lernte in der Uhrenfabrik Junghans, holte sein Abitur nach, wurde Diplom-Ingenieur. Can ist Mitinitiator des "Stuttgarter Modells" der Integration, das 2005 den Integrationspreis des Bundesinnenministeriums und der Bertelsmann-Stiftung gewann.
Früh erkannte Can, dass man aktiv werden muss, wenn man anerkannt werden will. So gründete er mit einem Freund damals im Schwarzwald eine Fastnachtsgilde und lernte sogar das Handwerk des Maskenschnitzers. Noch heute, immer am Faschingsdienstag, versucht er auf dem Markt in Degerloch den Einheimischen Schwarzwälder Fastnachtstraditionen nahe zu bringen. "Aber die haben dafür nur wenig übrig."
Auch in der Integrationspolitik bleibe noch eine Menge zu tun. Nach wie vor ist er nur einer von zwei Stadträten, die nicht in Deutschland geboren sind.Auf der anderen Seite erkenne er bei vielen seiner Landsleute eine "Mitleidspirale": wenn etwas nicht sofort klappe, würden die sich gegenseitig auf die Schulter klopfen und sagen: ,Siehst du, hier bekommen wir sowieso keine Chance'. Das sei der falsche Weg. "Die Schwaben erkennen es an, wenn sie sehen, dass du was leisten willst."
Der türkischstämmige Stadtrat ist längst ein "gefühlter" Schwabe: Anfang der neunziger Jahre schickte ihn sein damaliger Arbeitgeber Siemens für zwei Jahre nach Istanbul. Dort merkte Ergun Can plötzlich, wie deutsch er in all den Jahren geworden war - er störte sich an der Unpünktlichkeit der Busse, der Hierarchiegläubigkeit der Türken. "Da wusste ich, in die Türkei fahre ich nur noch zum Urlaub. Meine Heimat ist Stuttgart."
Artikel erschienen: September 2009
Zum Original