Wenn man heute vor dem viktorianischen Ziegelsteingebäude in Salford, Lancashire steht, kann man sie sich ganz einfach vorstellen: Andy Rourke, der scheinbar hinter die Kamera schaut, daneben (SLC) mit seiner dunkelgrünen Tür, den roten Ziegelsteinen und dem altmodischen Schriftzug hat sich seit seiner Eröffnung im Jahr 1903 wenig verändert. Durch ein Fotoshooting im Winter 1985/86, bei dem das ikonische Bandporträt der Steven Morrissey, die Hände in den Jeanstaschen vergraben, Smiths Johnny Marr in Blumenhemd und Lederjacke und im Hintergrund Mike Joyce mit Rollkragenpulli und grimmigem Blick. Die Fassade des Salford Lads' Club für ihr Album The Queen Is Dead entstand, wurde der Boys' Club in einem der Armenviertel Nordenglands zur popkulturellen Ikone. Und spätestens seit die Smiths im Video zu „Stop Me If You Think You've Heard This One Before" als Fahrrad-Gang durch Salford radelten, kannten alle traurigen Teenager Englands den SLC.
Heute heißt der Verein im Gebäude in der St. Ignatius Street Salford Lads' And Girls' Club - seit 1994 dürfen dem Club neben auch Mädchen beitreten. 150 bis 200 Jugendliche im Alter von acht bis 19 Jahren kommen jede Woche hierher, um Fußball zu spielen, ein paar Billardkugeln zu stoßen oder zu boxen. Der SLC ist der jüngste und zugleich einer der letzten erhaltenen von einst 21 Lads' Clubs, die in Greater Manchester um die Jahrhundertwende erbaut wurden. Reiche Industrielle und Fabrikbesitzer ließen solche Einrichtungen errichten, um die armen Kinder der Industriestädte von der Straße zu holen und ihnen eine in ihren Augen sinnvolle Beschäftigung zu geben. Was wie aus einem Dickens-Roman klingt, ist in Salford heute immer noch Thema: 21 Prozent der ansässigen Kinder lebten im Jahr 2016 unter der Armutsgrenze (im benachbarten Manchester waren es sogar 28 Prozent), die Stadt gehört zu den ärmsten drei Prozent der Einzugsgebiete des Landes.
„ Wir brauchen den Club heute genauso wie 1903", sagt Leslie Holmes, Kurator und Manager des SLC. Damals wie heute ist es die ärmere Arbeiter_innenschicht jenseits des Speckgürtels von Manchester, die in Städten wie Salford lebt. Die politische Einstellung der Bürger_innen hat sich mit den Jahren jedoch gewandelt. Bei der jüngsten britischen Unterhauswahl im Dezember krachte es selbst im einstigen Labour-Bollwerk. Im eigentlich verlässlich roten Salford verlor die Labour-Fraktion 8,7 Prozent der Stimmen, die Nigel Farages Brexit-Party mit 8,5 Prozent ziemlich passgenau für sich verbuchen konnte. Für immer mehr Menschen im Norden sind heute weder die Tories noch Labour unter Jeremy Corbyn eine Alternative. Rechtspopulistische Parteien und ihr Gedankengut hingegen sind (wieder) salonfähig.
Das zeigt sich exemplarisch an einem der früheren Helden der Gegend. Smiths-Gründer Morrissey ist Träger und Profiteur der Umstände. Wünschte er in den Achtzigerjahren der damaligen Premierministerin Margaret Thatcher im Song „Margaret On The Guillotine" noch die baldige Hinrichtung, flankiert er heute die ultrarechte Anti-Islam-Partei For Britain. Morrissey hat sich vom Blumenstrauß schwingenden Tierschützer mit Kassengestell zum alternden, zwangsvirilen Alt-Right-Posterboy gewandelt. Und wie beim Sänger hat sich in Städten wie Salford zwischenzeitlich die Anti-Establishment-Haltung vom linken ins rechte politische Spektrum verschoben.
Das Innere des Clubs ist dominiert von einem umrandeten Parkettboden, auf dem meist Fußball gespielt wird. „Viele Kids können es sich gar nicht leisten, bei einem größeren Club zu spielen", sagt Holmes. Fußball ist ein wesentlicher Teil der Alltagskultur von Salford und hat auch im SLC eine lange Tradition. Nicht weit entfernt befindet sich Old Trafford, das Heimstadion von Manchester United. Der Name des ehemaligen Profifußballers und Club-Mitglieds Eddie Colman fällt im SLC mit Bedauern. Als Außenläufer der „Busty Babes", wie man die erfolgreiche Mannschaft von United in den Fünfzigerjahren nannte, starb er mit nur 21 Jahren im sogenannten „ Munich Air Disaster ". Ein Charterflugzeug des Fußballvereins explodierte im Februar 1958 auf der Startbahn des Münchner Flughafens. 23 Menschen kamen dabei ums Leben.
Im Archiv hat Holmes ein Bild der ersten Fußballmannschaft des SLC aus dem Jahr 1903. Bei genauer Betrachtung sieht man, dass einige Spieler eine Art Locke über einer Augenbraue tragen. „Das war die Frisur der Gangmitglieder", erklärt Holmes - in diesem Fall der „Scuttlers". Ende des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts formierten sich junge Männer aus Greater Manchester zu „Scuttler" Gangs, die mit schweren Ledergürteln und Gürtelschnallen, die sogar Schädelknochen brechen konnten, Straßenkämpfe ausfochten. Durch eine Art Dresscode aus spitz zulaufenden Schuhen, Seemannshosen und Seidentüchern zeigten sich die „Scuttlers" bewusst mit einem eigenen Stil, um Maskulinität und Härte zu signalisieren, wie der True-Crime-Autor Andrew Davies schreibt.
Musterstadt der Arbeiter_innenklasseMelanie Tebbutt, Historikerin an der Manchester Metropolitan University, hat sich in ihrer Arbeit unter anderem mit der Jugend und den Jugendclubs Nordenglands beschäftigt. „Boys' Club sind ein wichtiger Teil der Geschichte der Working-Class-Jugend", sagt sie. Girls' Clubs, die sich im Gegensatz zu den individuell geführten Boys' Clubs schon 1911 zu einer landesweiten Organisation zusammenschlossen, gab es übrigens auch, wie Tebbutt in ihrem Buch detailliert darstellt. Der Girls' Club unweit des SLC wurde allerdings im „Manchester Blitz" 1941 durch deutsche Luftangriffe zerstört und als privat finanziertes Gebäude nicht wiedererrichtet.
Dem Grund, warum die meisten Besucher_innen heute in den SLC finden, ist in einer der ehemaligen Kraftkammern ein Schrein gewidmet. 2003 eröffnete Holmes den „Smiths Room". Post-It-Notizen mit Fan-Botschaften und eine Bildergalerie zeigen, wer hier schon einmal ein Foto mit der grünen Eingangstür gemacht hat: Peter Hook von Joy Division, Noel Gallagher oder Mark E. Smith statteten dem SLC Besuche ab. Die Beziehung zwischen den Smiths und dem SLC begann jedoch alles andere als harmonisch, wie Holmes erzählt.
An einem Tag im September 1985 klingelte das Club-Telefon. Das Londoner Label Rough Trade bat um die Erlaubnis für das Fotoshooting einer Band. Jim Rice, der Volontär, der damals ans Telefon ging, gab aber keine Genehmigung raus, weil das Label nicht bekannt geben wollte, um wen es sich dabei genau handelte. Fotograf Stephen Wright schoss das ikonische Porträt kurzerhand heimlich, der Club erfuhr davon erst, als das Foto schließlich im Cover-Sleeve von The Queen Is Dead auftauchte. Die Entrüstung bei der damaligen royalistischen Club-Leiterin war groß. Immerhin proklamierte die Band nicht nur den Tod der Queen, sondern besang auch andere in ihren Augen frevelhafte Dinge wie etwa „lifting some lead off the roof of the Holy Name Church" im Song „Vicar In A Tutu". Wenig später tauchten scharenweise Fans auf, die das Blei auf dem Dach der Holy Name Church zwar in Ruhe ließen, dafür aber Stücke der Fassade des SLC als Souvenir mitnahmen oder sie mit Graffiti besprühten.
Dass Salford und der SLC für die Smiths überhaupt eine Rolle spielten (keines der Bandmitglieder stammt aus der Stadt), ist einer berühmten Dramatikerin zu verdanken. Mit 19 Jahren schrieb die aus Salford stammende Shelagh Delaney (1938-2011) A Taste Of Honey (zu Deutsch etwas unglücklich: Bitterer Honig ). 1958 wurde das Stück unter der Regie von Joan Littlewood im Londoner East End uraufgeführt. Für die konservativen Zeitungen der Zeit war A Taste Of Honey ein Skandal, erzählte es doch die Geschichte einer jungen Frau, die das Kind eines Schwarzen Seemanns erwartete und mit einem queeren Künstler als Ersatzvater zusammenlebte. Delaneys Stück wurde in den folgenden Jahren von Bühnen im ganzen Land adaptiert.
Delaney selbst stammte aus Ordsall, einem dicht besiedelten Working-Class-Slum in Salford, das von Trafford und der Pub-Meile der Salford Docks begrenzt wurde, die man früher auch „Barbary Coast" nannte. Mit ihrer Kunst wollte Delaney die Stimmen der Frauen aus den britischen Industriestädten hörbar machen. „Der Feminismus verdankt den Bewohner_innen von Ordsall genauso viel wie den Oxford-Absolvent_innen", schreibt Selina Todd in ihrer kürzlich erschienenen Delaney-Biografie. Mit der Verfilmung des Stücks im Jahr 1961 wurde Salford zur britischen Musterstadt der Arbeiter_innenklasse. 1960 startete die bis heute am längsten laufende britische Seifenoper Coronation Street , die noch heute in Salford produziert wird und das Leben im fiktiven Industriestädtchen Weatherfield thematisiert. Coronation Street ist der echte Name der Straße, an deren Ende der SLC liegt.
Gute 25 Jahre später war der junge Morrissey vom eleganten Arbeiter_innenslang Delaneys und von „afternoon nostalgia television show[s]" wie Coronation Street begeistert. In seinen Songtexten übernahm er ganze Zeilen aus den Stücken Delaneys. „I dreamed about you last night and I fell out of bed twice" aus dem Song „Reel Around The Fountain" stammt leicht abgewandelt aus Delaneys Erstlingswerk. Morrisseys Faszination für die Working-Class-Kultur traf in den von Thatcherismus und dem eskalierten „Miner's Strike" geprägten Achtzigerjahren einen Nerv.
Der Ruhm der Smiths fiel, so Todd, „mit dem augenscheinlichen Zusammenbruch älterer Institutionen der Arbeiterklasse zusammen". Mit „Sheila Take A Bow" widmete die Band ihrem Idol einen eigenen Song. Und das Cover der 1987 veröffentlichten Compilation Louder Than Bombs ziert ein Portraitfoto Delaneys. Das Smiths-Foto vor dem SLC war am Ende nur eine weitere Referenz auf die Arbeiter_innenkultur von Salford. „Die Smiths waren plötzlich an einem realen Ort dargestellt", sagt Holmes, wenn er an den frühen Ansturm auf das Gebäude zurückdenkt. Mit der Blütezeit von Factory Records im benachbarten Manchester war der SLC ein Gebäude, das stellvertretend dafür stand, dass aus den stillgelegten Fabriken Nordenglands wenn schon keine Maschinengeräusche, so doch die coolste Musik Großbritanniens tönte.
„Was, wenn Morrissey stirbt? Wo ist er? Weg! Aber diese anderen Männer leben für mich weiter", sagt Archie Swift. Als er vor 73 Jahren dem Club beitrat, waren die Smiths noch lange nicht geboren. Dafür erinnert er sich an ganze Generationen von Jungen aus der Nachbarschaft, die im Laufe der Jahrzehnte den Club besuchten. Unter ihnen ein späterer Boxchampion, ein Rugby-Trainer der englischen Nationalmannschaft, aber auch Menschen, die es nie aus Ordsall hinaus schafften oder sogar im Gefängnis landeten.
Der einzige Urlaub im JahrFür die Smiths hat Swift wenig übrig, an einen anderen berühmten Musiker und ehemaligen erinnert er sich aber noch genau: Graham Nash, Gründer der Hollies und später Teil von Crosby, Stills & Nash. „Ich hab' ihn großgezogen, den Nashy", sagt Swift. Für Nash war die Zeit im SLC musikalisch prägend. In Minstrel Shows lernten er und sein Schulfreund und Hollies-Mitgründer Allan Clarke Mundharmonika, Banjo und Ukulele zu spielen. Solche Shows, in denen Weiße in Blackface Musik- und Slapstickeinlagen aufführten und damit rassistische Stereotype reproduzierten, gab es im SLC noch bis Mitte der Sechzigerjahre.
Als Teil der örtlichen Minstreltruppe machte der spätere Rockstar Nash in den Fünfzigerjahren erste Bühnenerfahrungen im großen Saal im ersten Stock. Singen lernte er im Kirchenchor. Zu Swift soll der damalige Chorleiter gesagt haben, es handle sich bei „Nashy" um „den besten neuen Sänger, den ich je gehört habe". Von Salford auf die Bühnen der Welt war es trotzdem noch ein weiter Weg. „Es war ziemlich rau hier", sagt Swift über seine Jugend. „Die größten Gangster von Großbritannien kamen ohne Zweifel aus Ordsall." Aber gerade hier könne man es sich laut Swift nicht leisten, Straftäter_innen und ihre Kinder anders zu behandeln: „Ich muss sie mögen, weil sie Teil dieser Gesellschaft sind. Ob das einem nun passt oder nicht."
Das Stadtbild von Salford verändert sich seit der Industriellen Revolution ständig. Ganze Siedlungen, auch die Häuser des ehemaligen Working-Class-Slums rund um den SLC, wurden im Laufe der Zeit immer wieder abgerissen und neu errichtet. Der fast 120 Jahre alte Ziegelbau des SLC hat so gesehen auch eine symbolische Bedeutung für die Bewohner_innen des Viertels: „ Es gibt eine starke Identifikation mit der materiellen Kultur des Clubs", bestätigt Tebbutt. Für die Jugendlichen im Club spielt der traditionelle jährliche Camping-Ausflug nach Aberystwyth an der walisischen Küste eine zentrale Rolle. „Das Camp hält den Club zusammen", sagt Holmes. Für viele Jugendliche in Salford ist dieser Ausflug damals wie heute der einzige Urlaub im Jahr.
In der kleinen Kantine links des Eingangs manifestiert sich, wofür der SLC heute steht. An den Wänden hängen Gruppenporträts jedes einzelnen Camps, das seit 1904 stattgefunden hat. Auf den Tischen in der Mitte verkaufen die freiwilligen Mitarbeiter_innen des Clubs Souvenirs: Smiths-Salzstreuer (Marr ist Salz, Morrissey Pfeffer), Smiths-T-Shirts, oder ein Teeservice, von dessen Untertasse einem Morrissey skeptisch entgegenblickt. Für Holmes „reflektiert und feiert" der SLC Working-Class-Kultur. Das hat man mittlerweile auch in der Filmbranche erkannt.
Diverse Szenen von Peaky Blinders , oder eben Coronation Street wurden und werden hier abgedreht. Im Gegensatz zu den anderen verbliebenen oder in den vergangenen Jahren geschlossenen Lads' Clubs habe der SLC seine „ikonische, wichtige Rolle im musikalischen Erbe Manchesters", sagt Tebbutt. „Die Vorstellung eines ganzen Gebäudes, das das Teenager-Sein zelebriert, ist ziemlich einzigartig", sagt Holmes.
Am Ende ist der SLC vor allem eines: Ein Ort, an dem die Jugendlichen aus den benachteiligten Randgebieten Manchesters Spaß und Geborgenheit erleben dürfen. Ein Tempel für Teenager und alle, die sich noch heute manchmal dazu gesellen wollen zu den rotzig dreinblickenden Smiths, ins kaputte, aber kreative Greater Manchester der Achtzigerjahre.