Der Vorwurf an Vikor Orbán ist harsch: "Partielle Holocaustleugnung". Grund sind die jüngsten Äußerungen des ungarischen Ministerpräsidenten, mit denen er die Rolle Ungarns bei der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung vor und während der Nazibesatzung 1944 relativiert. Der Parteichef des nationalkonservativen Fidesz-Bundes, der am morgigen Donnerstag auf dem WDR-Europaforum in Berlin reden wird, schrieb in einem vierseitigen Essay, ohne die deutsche Besatzung hätte es "keine Deportationen gegeben" - ganz so, als hätten ungarische Behörden nicht bereits davor Zehntausende Juden in Zwangsarbeitslagern eingekerkert.
Einen Monat nach den Parlamentswahlen hat Orbán sein Versprechen noch immer nicht eingelöst, mit den jüdischen Verbänden in Ungarn über ihre Kritik an dem offiziellen Holocaust-Gedenkjahr zu sprechen. Statt dessen stellt er die Verbände, die das Gedenkjahr boykottieren, vor vollendete Tatsachen.
Als vor zehn Tagen in Budapest der »zwölfte Marsch der Lebenden« des Holocaust gedachte, nahmen laut der
unabhängigen Onlinezeitung Pester Lloyd (PL) rund 30000 Menschen daran
teil. Ein neuer Rekord. Auch einige Vertreter der nationalkonservativen
Fidesz-Regierung waren dabei, vorneweg Fidesz-Gründungsmitglied und
Staatspräsident János Áder. Nicht dabei sein wollten hingegen die
größten jüdischen Verbände »Mazsihisz« und das »Yad-Vashem-Institut«.
Das offizielle Holocaust-Gedenkjahr der Regierung lehnen sie ab, wegen
zwei Fidesz-Vorhaben: ein Denkmal und ein Gedenkzentrum.
Die Baustelle des Okkupationsdenkmals auf dem Budapester Freiheitsplatz
wird seit Wochen von Protesten begleitet (jW berichtete). Es soll noch
diesen Monat fertiggestellt werden und an »alle Opfer des
Nationalsozialismus in Ungarn« erinnern. Im Zentrum stehe aber laut PL
»das Unschuldslamm: der ungarische Staat«. Beherrscht wird das Monument
vom Erzengel Gabriel, der in friedlicher Absicht Arme und Flügel von
sich streckt und von oben von einem Reichsadler mit ausgefahrenen
Krallen attackiert wird. Nach Orbáns Interpretation ein Symbol für die
unschuldigen Opfer. Vor noch gar nicht all zu langer Zeit – im Entwurf
des Bildhauers – war der Engel aber laut Pester Lloyd noch als »Symbol
für die Nation an sich« gedacht. Die Mitverantwortung Ungarns an den
faschistischen Verbrechen solle damit relativiert werden. Diesem
Verdacht begegnete der Ministerpräsident auf seine Art: Den eingangs
erwähnten Essay schrieb Orbán als Brief an die 92jährige Historikerin
Katalin Dávid. Sie hatte das Denkmal zuvor als vorsätzlich
geschichtsfälschend kritisiert.
Orbán schreibt in seinem Brief, daß die ungarischen Behörden zwar für
die damaligen Vorkommnisse mitverantwortlich gemacht werden sollten,
aber das Denkmal erinnere nun eben an die unschuldigen Opfer. Hier ist,
so scheint es, kein Platz für eine unvoreingenommene Reflexion der
letzten Jahre unter dem faschistischen Reichsverweser Miklós Horthy, der
von 1920 bis 1944 Staatsoberhaupt des Königreiches Ungarn war und
während des Zweiten Weltkriegs Zehntausende Juden in Zwangsarbeitslager
deportieren ließ.
Eine Formulierung, die der Militärhistoriker Sándor Szakály nicht wählen
würde. Er ist Chef des staatlichen historischen Forschungsinstituts
»Veritas« (Wahrheit) und nannte die Verschleppungen vor der
Nazibesatzung unlängst eine »fremdenpolizeiliche Maßnahme« – woraufhin
die jüdischen Verbände ihren Boykott erklärten. Die Fidesz-Regierung
hatte das »Veritas«-Institut selbst gegründet und ihm vor wenigen Wochen
Kooperationsverträge mit – ebenfalls staatlichen – Museen gesichert,
zum Beispiel dem Budapester Holocaust-Gedenkzentrum. Etliche Bürger
halten »Veritas« für geschichtsrevisionistisch und fordern aufgrund der
Kontakte des Institutschefs zur faschistischen Jobbik-Partei – er ist
ein gern gesehener Gast auf deren Veranstaltungen – den Rücktritt
Szakálys.
Viktor Orbán verteidigt dennoch das Gedenkjahr: Das Okkupationsdenkmal
für Hunderttausende unschuldige Opfer sei »nicht nur die richtige Sache,
sondern eine moralische Pflicht«, zitiert ihn PL aus seinem Essay. Eine
»Pflicht«, über die Orbán zwar schreibt, aber nicht mit den
Opferverbänden diskutieren wolle. Zwar seien sie zum Gedenkjahr
eingeladen, trotzdem sei eine andere Meinung als die des
Staatsoberhaupts nicht gewollt.