Astrid Diepes

Journalistin, Frankfurt, Stuttgart & Italien

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Kultur in der Vesperkirche – Nahrung für Leib und Seele Akademischer Chor und Orchester der Universität Stuttgart laden zu Benefizkonzert ein

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Astrid Diepes
12. Februar 2015

Auch in einer "reichen" Stadt wie Stuttgart, in der teure Wagen gefahren und edle Kleider getragen werden, gibt es viel Armut. Und die hat unterschiedliche Gesichter: Einsame, Obdachlose, Alte, Arbeitslose, Kranke, Prostituierte, Junkies. Für sie und für alle anderen Stuttgarter gibt es bereits seit 20 Jahren die Stuttgarter Vesperkirche.

Warmes Essen im kalten Winter (Bild: Gottfried Stoppel)

Die Stuttgarter Vesperkirche ist mittlerweile eine Institution geworden. Seit 20 Jahren macht sie Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Hoffnung sichtbar für Menschen, die diese dringend brauchen. Denn sie haben oft niemanden, der sich um sie kümmert, sie haben kein festes Dach über dem Kopf und verbringen den ganzen Tag bei bitterer Kälte und Schnee draußen.

Seit 18. Januar und noch bis zum 7. März lädt die Vesperkirche jeden, der kommen möchte, herzlich ein. In der Leonhardskirche gibt es neben netten Gesprächen auch warmes Essen, heißen Tee und Kaffee. Dank der Vesperkirche können arme und einsame Menschen sieben Wochen lang von montags bis sonntags in der Leonhardskirche ein Zuhause auf Zeit finden. Auch über Besucher, die wohlhabender sind, freut man sich in der Vesperkirche. Sie ist ein Treffpunkt für alle. Jeder darf hier zu Mittag essen und eine schöne Zeit haben. Besonders schön ist es, wenn arme und reiche Menschen gemeinsam am Tisch sitzen. Dann wird sichtbar, dass jeder Mensch gleich wertvoll ist.

Da der finanzielle Aufwand für dieses wunderbare soziale Projekt sich jedes Jahr auf 260.000 Euro beläuft, ist die Kirche auf Spenden und Besucher, die mehr für ihr Mittagessen zahlen, angewiesen. Karin Ott, seit Herbst 2008 zuständige Diakoniepfarrerin, legt großen Wert auf diesen Aspekt: „Die Vision, dass Menschen unterschiedlicher Armutsgruppen sich begegnen, miteinander essen und auf Zeit miteinander leben, lebt in der Vesperkirche weiter.“

Für das seelische Wohl der Besucher sorgen diesen Winter auch Studierende der Universität Stuttgart. Beim Benefizkonzert am 15. Februar werden  der Akademische Chor und das Orchester der Universität Stuttgart ab 16 Uhr die Besucher der Vesperkirche mit sieben Vaterunser-Vertonungen aus fünf Jahrhunderten erfrischen. Seit jeher ist das Vaterunser das wichtigste christliche Gebet – deshalb sind in der Geschichte des Christentums sehr viele Vertonungen entstanden. Die Wahl für das Konzert fiel auf die Versionen von Heinrich Schütz, Giacomo Meyerbeer, Igor Strawinsky, Wolfgang Stockmeier, Józef Swider und Leoš Janácek. Außerdem werden Felix Bartholdy Mendelssohns Hymne „Hör mein Bitten“ und Axel Ruoffs „Belschazzar – ein Tanzritual“ zu hören sein. 2013 feierten der Akademische Chor und das Orchester der Universität ihr 50-jähriges Jubiläum. Viele der Musizierenden konnten sogar auf Tourneen bis nach China oder Australien gehen.

Akademischer Chor beim Konzert in der Vesperkirche 2013 (Bild: Dieter Schmid, Unimusik Stuttgart)

Die Leonhardskirche liegt in einem Brennpunkt zwischen dem Stuttgarter Straßenstrich und exklusiven Kaufhäusern. Ab 1408 wurde die Kirche unter den Baumeistern Hänslin Jörg und Alberlin Jörg erbaut. Nach den verheerenden Bombennächten des Zweiten Weltkriegs wurde sie in vereinfachter Form wiederaufgebaut.

Für die Vesperkirche, die seit 1995 jeden Winter für das "tägliche Brot" sorgt, wird die Kirche alljährlich umgebaut. Ein Drittel der Kirchenbänke wird dabei durch Tische ersetzt. Von 9 Uhr bis 16 Uhr treffen sich Menschen mit den unterschiedlichen Schicksalen im Gotteshaus in Stuttgarts Altstadt. Hier können sie tun, was ihnen sonst oft fehlt: sich unterhalten, gemeinsam Spaß haben, in Ruhe und Sicherheit schlafen, Zeitung lesen, Karten spielen und Musik hören.

Aber auch im täglichen Überlebenskampf werden sie umfassend unterstützt: Ab 11:30 Uhr gibt es für 1,20 Euro eine warme Mahlzeit. Wer das Geld nicht aufbringen kann, darf sich trotzdem satt essen. Diakoninnen und Diakone stehen mit Rat und Tat zur Seite. Ärzte und Ärztinnen sind für die Besucher da; seit Neustem gibt es sogar einen Zahnarzt. Auch Tierärztinnen helfen, wenn Herrchen oder Frauchen sich um ihren vierbeinigen Kameraden sorgt. Besonders freuen sich viele Gäste über die kostenlosen Friseure. Denn es ist etwas nicht Alltägliches, dass sich jemand mal nur um sie kümmert. 730 Ehrenamtliche plus Hauptamtliche und zahlreiche Spender stellen sicher, dass die Versorgung jeden Winter gewährleistet ist. Das Kulturprogramm bietet hochklassigen Genuss, den sich viele Besucher sonst nicht leisten könnten.

Friseurin macht eine Vesperkirchenbesucherin glücklich (Bild: Gottfried Stoppel)

Die Vesperkirche ist eine Begegnungsstätte für Menschen aller Bevölkerungsgruppen und Nationalitäten. Auch Mitbürger mit türkischem Migrationshintergrund und muslimischer Religion bringen sich gerne in die Gemeindearbeit ein. Ein prominentes Beispiel ist die deutsch-türkische Theaterregisseurin und Schriftstellerin Nilgün Tasman. Zusammen mit Freunden veranstaltet sie in der Leonhardskirche die Aktion "Tischlein deck‘ Dich" mit türkischem Kartoffelsalat und Sucuk, einer in der Türkei sehr beliebten, würzigen Wurstsorte. Die Einnahmen der Veranstaltung spendet sie für die Vesperkirche; während fünf Jahren kamen stolze 46.000 Euro zusammen. Auch ihr bedeutet das friedliche und hilfsbereite Zusammenleben von armen und reichen, von deutschen und türkischen Menschen sehr viel: "Das [Essen] sollte für die deutschen Gäste einerseits etwas Besonderes sein, etwas, das man nicht jeden Tag hat. Und andererseits sollte es den muslimischen Mitbürgern die Scheu nehmen, in eine christliche Kirche zu gehen und dort zum Beispiel etwas zu essen zu bekommen."


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