Es ist der 3. Januar 2016. Die Terrorwarnungen aus der Silvesternacht in München liegen nur Tage zurück. Ich bin auf dem Weg zur U-Bahn, als ich merke, wie sie mir folgt. Noch ist sie weit weg, doch ich höre sie hinter mir her hasten. Als ich die Treppen der Rolltreppe hinabhüpfe, holt sie mich auf. Als die U-Bahn am Bahnsteig einfährt, steige ich in den ersten Waggon. Auch sie folgt mir. Die Türen schließen, wir fahren los. Da tippt sie mir auf die Schulter. Die Angst. „Bist du hier noch wirklich sicher?", fragt sie mich. Ich drehe mich um, entsetzt und erschrocken über so eine dreiste Frage. „Natürlich bin ich das", schreie ich sie an. Sie weicht zurück. Als wir den nächsten U-Bahnhof erreichen, ist die Angst längst ausgestiegen. Irgendwo unter der Erde.
Je mehr Raum wir unseren Ängsten geben, umso größer werden sie.Anschläge in Paris. Terrorwarnungen in München. Schreckliche Missbrauchsfälle in Köln. Und der heutige vermutliche Selbstmordanschlag inmitten des Touristenzentrums in Istanbul. Noch nie waren Bedrohungen dieser Art so nah. Der Terror ist in unsere Wohnzimmer gezogen. Durch das Internet, durch Liveticker, aber auch durch Vorkommnisse vor unserer Haustür. Aufgewachsen in einer sicheren westlichen Welt sind Terror und Krieg jetzt so nah wie nie. Und noch nie hatte die Bedrohung so sehr ein Gesicht. Ein Gesicht, das sich „Flüchtlinge" nennt. Menschen, die genau vor solchen Bedrohungen geflohen sind, die hier zum Großteil Schutz und Frieden suchen, sind plötzlich das Gesicht dieses Krieges.
Tatsächlich bin ich an jenem 3. Januar mit kurzen Zweifeln in die öffentlichen Verkehrsmittel gestiegen. Um mir dann zu sagen: „Ich möchte keine Angst haben. Ich möchte alle Plätze, alle Städte, alle Konzerte und andere Veranstaltungen besuchen, ohne Angst zu haben. Ich möchte weiterhin all jenen Menschen, die geflohen sind, offen begegnen. Sie integrieren, ein Miteinander schaffen. Ihre Kultur kennenlernen, ihnen meine näher bringen und eine bunte Gesellschaft entstehen lassen, die uns alle bereichert. Angst steht da im Weg. In jeder Hinsicht."
Die Vorfälle in Köln waren schrecklich. Sie waren grauenvoll, ekelhaft und verstoßen komplett gegen mein und unser Wertesystem. Aber sie waren die Taten Einzelner. Täter, die zweifelsfrei verurteilt und bestraft werden müssen. Aber die Pauschalisierung und unreflektierte Hetze, die nicht nur in den sozialen Netzwerken, sondern auch von deutschen Medien, für dich ich selbst arbeite, betrieben worden ist, macht mich wütend. Es ist der völlig falsche Ansatz - und doch fruchtet er bereits.
Angst beginnt immer im Kopf.Sätze wie „Ich habe Angst um meine Kinder", „Ich fühle mich nicht mehr sicher" oder „Was soll nur aus unserem Land werden" sind nicht zwingend ausländerfeindlich, aber tendenziös. Und Gift, Gift für eine Gesellschaft, in der Integration stattfinden muss. In der unsere Politik gefordert ist, Ghettoisierung zu verhindern, Menschen zu fördern und Ängste zu nehmen. Und wer glaubt, dass diese Sätze nur von Pegida-Anhängern fallen, irrt. Diese Ängste ziehen sich nun durch alle Alters- und Gesellschaftsschichten. Sie enden in skeptischen Blicken auf Flüchtlingsfamilien am Hauptbahnhof. Sie hinterlassen ein schlechtes Gefühl, wenn man in die U-Bahn steigt und jemand seinen Rucksack auf den Boden stellt. Sie hinterlassen eine Masse an Menschen, die sich einander nicht mehr traut. Die das Böse hinter jeder Ecke vermutet.
Insofern machen mich die Vorfälle in Köln nicht nur als Straftat mehr als wütend. Auch nicht nur als Frau. Sondern auch als Signal für unsere Gesellschaft. Diese einzelnen Täter haben ein fatales Signal gesendet. Integrationspolitik wird es künftig noch schwerer haben. „Sie muss trotzdem und gerade deswegen mit aller Kraft intensiviert werden; das ist die politische Antwort auf die Ausschreitungen", schreibt Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung. Und ja, das ist die politische Aufgabe. Genauso wie eine absolute Strafverfolgung, die außer Frage steht.
Unsere Aufgabe ist es jedoch: Reflektieren. Hinterfragen. Keine Pauschalisierungen hinterherplappern. Eigene Erfahrungen machen. In der Flüchtlingsarbeit. Wir als Bewohner dieses Landes müssen auf die Neuankömmlinge zugehen. Sie einbinden in unser soziales Leben, unsere Kultur und offen sein für deren Kultur. Wir dürfen uns nicht auf die Politik verlassen, sondern müssen selbst aktiv werden. Statt Abschottung muss es ein gemeinsames Leben geben. Damit die Angst, die sich ausbreitet, wieder eliminiert wird.
Und ja, wer immer noch meint, wir hier in München wohnen sicher und haben keine Ahnung, ich habe im vergangenen Jahr drei Monate in der Flüchtlingsarbeit gearbeitet, nur positive Erfahrungen gesammelt. Und wir von amazed werden das im besten Falle gemeinsam in München ausbauen. Denn es ist - neben Artikeln über Mode, Beauty und Lifestyle, unsere verdammte Aufgabe, Offenheit zu zeigen. Unsere Reichweite als Medium zu nutzen, um zu zeigen, Angst ist der völlig falsche Motor. Für die Flüchtlingsarbeit, aber auch für unsere Gesellschaft. Jetzt noch mehr als zuvor.
Wir wollen keine Chancen verpassen, aufgrund von Angst. Nennt es Gutmensch-Sein, vielleicht Naivität, aber statt zu sagen „Ich möchte keine Kinder in dieser Welt aufziehen" möchte ich eine Welt schaffen, in der es funktioniert. Für alle.