Seine Hand ist warm und weich, als er sie mir zur Begrüßung reicht. Sie duftet sogar nach Zitrusfrucht. Seine Fingernägel: akurat gestutzt. Sein Gesicht gepflegt und sein Bart abrasiert. Nur ein paar Zähne fehlen ihm. Und dennoch, er wirkt nicht, wie jemand, der obdachlos ist. "Man kann arm sein, aber gepflegt", sagt der 57-jährige Straßburger und lacht. "Seife und Wasser kosten nicht die Welt." Früher einmal hatte er eine Arbeit und eine Wohnung. "Ich war Maler", sagt er und seine Stimme hebt sich, er wirkt fast schon stolz. Berlin, Dresden, aber auch nach England und Afrika sei er gereist.
"Es fällt mir gleich auf, wenn etwas gut gestrichen ist", sagt er mit rauchiger Stimme und schaut sich die grünen Wände im Gemeinschaftsraum bei der Bahnhofsmission in Kehl ganz genau an. Hier kommt er her, um sich zu waschen, zu rasieren, etwas zu essen, einen Kaffee zu trinken und seine Worte nicht nur für sich im Kopf zu behalten. Der Mann, der fast zwei Meter groß ist, lebt seit zwei Jahren auf der Straße. Mal in Straßburg, mal in Kehl. Das Bett hat er mit dem harten Boden eingetauscht. Er schläft unter Treppen, auf Straßen, unter Brücken - immer den Asphalt im Nacken. Der 57-Jährige reist mit einem Rucksack, drei großen Decken und zwei Schlafsäcken umher - das reiche ihm.
Nicht in Versuchung kommen
"Wer zu lange auf der Straße lebt, hat es schwerer, einen Neuanfang zu schaffen", sagt er. "Was bedeutet lange?", frage ich. Er lächelt, beugt sich zu mir. "Das ist schwer zu sagen, für manche sind es schon vier Wochen, für andere ein paar Monate." Dann spricht er von den drei großen Gefahren auf der Straße: Drogen, Prostitution und die Spielsucht. "Sie machen einen kaputt. Ich halte mich davon fern." Seit acht Jahren trinkt er keinen Alkohol und meidet Menschen, die es tun. Was ihn konkret auf die Straße trieb, kann er schwer sagen. Es fing damit an, dass seine Freundin vor ein paar Jahren starb. Er bekam Depressionen.
"14 Mal war ich im Krankenhaus deswegen." Alles fiel ihm schwerer, er bekam sogar Herzprobleme. An was sie starb, verrät er nicht und sagt nur: "Ich hab sie wirklich gern gehabt." Sein Blick wirkt traurig, ein wenig verloren. "Ein gutes Mädchen", sagt er nach einer langen Pause. Eine Tochter hat er auch, sie ist schon 30 Jahre alt. "Seit ihrem achten Lebensjahr hab ich sie nicht mehr gesehen." Doch das Leben auf der Straße sei nicht immer einsam. Unter den Obdachlosen gebe es auch Freundschaften. "Viele, die auf der Straße leben, haben ähnliche Geschichten", erzählt er. "Man versteht sich mit manchen, mit anderen weniger."
Trotzdem reise er viel lieber alleine umher. "Alleine zu sein, fällt zwar schwer, aber es ist sicherer." Er will nicht in Versuchung kommen, zu trinken. "In einer Gruppe gibt es immer jemanden, der an einer Dose nippt." Die Einsamkeit ist der Preis, den er für seine Gesundheit zahlt.
Jeder Tag ist gleich
Über die Passanten, die täglich an ihm vorbeilaufen, hat er nichts Schlechtes zu sagen. "Die meisten Menschen sind gar nicht so übel, wie man denkt", sagt er und lacht. Einige haben ihn bereits zum Essen eingeladen. "Einmal gab es Kalbfleisch-Ragout mit Spätzle, dazu ein großes Mineralwasser", schwärmt er und fügt lachend hinzu: "Ich wollte das Restaurant am liebsten nie wieder verlassen." Obwohl ihm viele Fremde schon einen Schlafplatz angeboten haben, lehnte er immer ab. "Ich schlafe nun mal draußen auf der Straße, und dafür muss sich keiner verantwortlich fühlen." Das Weihnachtsfest ist da. "Jeder Tag ist gleich, da ist es an Weihnachten eigentlich auch nicht anders." Eigentlich. Doch in diesem Jahr könnte es ein wenig anders laufen. Er will seinen Bruder besuchen. Vor ein paar Tagen habe er mit ihm telefoniert und ihm erzählt, dass er auf der Straße lebe. "Er wusste es noch nicht." Daraufhin schlug er ihm vor, ihn doch in Colmar zu besuchen. Zum Rest der Familie hat er den Kontakt abgebrochen. Bei der Bahnhofsmission bekommt er nun seinen Fahrschein. "Ich bin dann mal wieder für längere Zeit im Warmen", sagt er und lächelt.
Es ist die erste Chance nach zwei Jahren wieder "zurückzukehren". "Man darf nicht aufgeben, niemals, denn dann schafft man es nicht", sagt er. Zu Weihnachten wünsche er sich aber nur eins: "Gesund zu sein. Alles andere lässt sich arrangieren". Plötzlich steht er auf. Er hat sich genug aufgewärmt und will seinen Rucksack holen, den er vor dem Bahnhof in Kehl in einer Ecke versteckt hat. Seine Reise geht bald weiter. Doch dort liegen nur zwei Decken und eine Tüte. "Mein Rucksack ist weg", sagt er und schaut nervös um sich. "Da sind meine Medikamente drin." Auch ein Schlafsack wurde ihm geklaut. Dann zeigt er mir seinen Schlafplatz, den er oft in Kehl hat. Unter einer Treppe am Bahnhof. Ich stehe in seinem Schlafzimmer.
Dort liegen ein paar Plastiktüten, ansonsten ist es sehr sauber. "Nass wurde ich gestern trotzdem", sagt er, und während ich aus seinem Schlafzimmer trete, schaut er in alle Ecken, ob sein Rucksack nicht doch noch irgendwo liegt. "Ich war doch nur 45 Minuten weg", sagt er enttäuscht. In ein paar Stunden fährt sein Zug nach Colmar. Bis dahin will er noch in der Apotheke sein Medikament holen. Er blickt in seinen Geldbeutel - ein bisschen Geld hat er noch. Dann setzt er sich auf eine Bank vor den Bahnhof und zieht an seiner Zigarette.
Am liebsten würde ich ihn in dem Arm nehmen. Wer klaut einem Obdachlosen schon einen Rucksack? Anstatt ihn zu umarmen, schaue ich ihn an. Dabei murmelt der Franzose leise vor sich hin: "Er kann doch nicht weg sein." Ich reiche ihm meine Hand, um mich zu verabschieden. Seine Hand ist ein wenig kälter geworden. Er hält sie lange und sagt: "Wenn ich von der Straße wegkomme, melde ich mich bei Ihnen." Ich nicke und gehe. Dann drehe ich mich doch noch einmal um. Und hoffe, dass ich ihn nie wieder in Kehl am Bahnhof sehe. Denn dann hat er es geschafft.